VORWORT
DES HERAUSGEBERS
Emanuel
Swedenborg (1688-1772) war bis zum Alter von 56 Jahren einer der produktivsten
und vielseitigsten Naturforscher seiner Zeit. Nicht von ungefähr hat man ihn
den „schwedischen Aristoteles“ genannt. Als er schließlich das bis heute
ungeklärte Leib-Seele-Problem anpackte, mußte er erkennen, daß die
wissenschaftliche Methode, die ihn bisher von Erfolg zu Erfolg geführt hatte,
gerade in dieser Frage grundsätzlich versagt. Die Seele gehört einem Bereich
der Wirklichkeit an, der sich mit dieser Methode nicht fassen läßt. Eine
daraus resultierende Lebenskrise löste sich in überwältigenden religiösen
Erlebnissen.
1744
und 45 hatte er zwei Christuserscheinungen, die ihn veranlaßten, sein Leben
radikal zu ändern und sich fortan nur noch geistig-religiösen Dingen zu
widmen. Einzig sein Amt als hochgeachtetes Mitglied des schwedischen Reichstags
behielt er bis ans Lebensende bei. Während 28 Jahren durfte er bei vollem
Bewusstsein in den anderen Bereich der Wirklichkeit eintreten und seine
zahlreichen Visionen und Auditionen schildern.
Zugleich
widmete er sich der ihm gestellten Aufgabe, den tieferen Sinn der Bibel
aufzuschließen, den wir heute als den symbolischen bezeichnen. Das wichtigste
Ergebnis dieser Arbeit waren die zwischen 1747 und 1758 publizierten acht dicken
Bände „Himmlische Geheimnisse im Worte Gottes, die nun enthüllt sind.“ Der
Inhalt zeigt anhand der Auslegung der beiden ersten Bücher Mose, daß die Bibel
„das Buch der Seele“ ist und uns – wenn man ihre Bildersprache versteht
– noch heute den Weg der wahren Menschwerdung aufzeigt.
Die
erste deutsche Übersetzung des Riesenwerkes wurde 1845 von dem Tübinger
Universitäts-Prof. Dr. Immanuel Tafel an die Hand genommen. Bis 1863 erschienen
in fünf Bänden die ersten 2’605 von insgesamt 10’837 Paragraphen, nämlich
die Auslegung von Ka. 1 bis 20 des 1. Buches Mose. Nach Tafels Tod führte ein
Übersetzer-Team die Arbeit zuende. Schließlich wurde das Gesamtwerk in 16 Bänden
zwischen 1867 und 69 bei Ferdinand Riehm in Basel und Ludwigsburg gedruckt.
Einzelne Bände wurden später nachgedruckt. Während Jahrzehnten war dann das
Werk vergriffen und nur noch antiquarisch oder leihweise aufzutreiben. Als dann
während des 2. Weltkriegs die deutsche Frakturschrift abgeschafft wurde und
schließlich die nach dem Kriege Aufgewachsenen Mühe bekundeten, sie überhaupt
noch zu lesen, stellte sich immer dringender die Frage, wie eine Neuauflage in
der üblich gewordenen „lateinischen“ Schrift bewerkstelligt werden könnte.
Da die enormen Kosten eines Neusatzes von rund 20 Millionen Anschlägen nicht
aufzubringen waren, entschloß man sich 1965, in der 1961 gegründeten
Hausdruckerei des Swedenborg Verlags Zürich eine „Studienausgabe”
herauszubringen. Sie lag Anfang der siebziger Jahre in 8 Bänden und einem Ergänzungsband
vor. Dieser enthielt die zahlreichen Texte, die Swedenborg zwischen die
einzelnen Kapitel seiner Bibelauslegung eingeschoben hatte, die damit aber nur
indirekt zu tun haben. Sie wurden nun zwecks leichterer Auffindung zusammengefaßt.
Einzelne Bände dieser Studienausgabe mußten im Laufe der Jahre nachgedruckt
werden.
Als
der Verlag dann in den späten 80er Jahren auf „Desktop-Publishing“
umschaltete, gab man sich zunächst der Hoffnung hin, die Frakturschrift mit
Hilfe eines entsprechend programmierten Scanners in Antiqua umsetzen zu können.
Diese Hoffnung erfüllte sich leider nicht. Aber gerade als diese mühsamen
Versuche aufgegeben werden mußten, meldete sich Herr Franz Kreuzwegerer, ein
begeisterter Leser der Werke Swedenborgs, und teilte mit, daß er mithilfe
seiner Gattin den gesamten Text der „Himmlischen Geheimnisse“ in der
vorliegenden deutschen Fassung in den Computer eingegeben habe und dem Verlag
unentgeltlich zur Verfügung stelle. Nun rückte ein Nachdruck in heutiger
Schrift in den Bereich des Möglichen. Die unsere Finanzen übersteigenden
Satzkosten fielen plötzlich dahin. Freilich erforderte die Aufbereitung des
Textes noch einen erheblichen Zeitaufwand, war doch die altertümliche
Orthographie zu korrigieren und mehrfach Korrektur zu lesen. Mehrere Personen
beteiligten sich aufopfernd daran. Ihnen allen, vor allem aber Herrn und Frau
Kreuzwegerer, sei hier der herzliche Dank des Verlags ausgesprochen.
Wer
unvorbereitet in Swedenborgs Hauptwerk blättert, wird zumeist nicht recht
wissen, was er damit anfangen soll – es sei denn, er stoße gerade auf eine
Stelle, die ihn unmittelbar anspricht. Angelockt durch den Kurztitel
„Himmlische Geheimnisse“ fühlt er sich zudem womöglich in seinen
Erwartungen getäuscht, wenn er weniger über die geheimen Dinge des Himmels,
dafür umso mehr über den „geistigen und himmlischen Sinn“, also über die
symbolische Bedeutung der beiden ersten Bücher Mose erfährt – und nicht auf
Anhieb versteht.
Der
volle Titel hätte ihn warnen können, lautet er doch: „Himmlische
Geheimnisse, die in der Hl. Schrift enthalten und nun enthüllt sind“. Erst im
Untertitel heißt es dann: „Zugleich die Wunderdinge, die in der Geisterwelt
und im Himmel der Engel gehört und gesehen wurden.“
Der
Großteil des riesigen Werkes dient also der sorgfältigen, von Vers zu Vers
vorrückenden Auslegung der beiden ersten Bücher Mose, in deren Verlauf auch
Tausende von anderen Bibelstellen behandelt werden. Wie angedeutet, geht es
Swedenborg um den „himmlischen“ und „geistigen“ Sinn der Texte. Was den
Letzteren betrifft, so bezieht er sich auf die Wiedergeburt oder wahre
Menschwerdung des Menschen. Heute würde man ihn wohl den „psychologischen“
Sinn nennen oder von einer „Deutung auf der Subjektstufe“ sprechen.
Der
„himmlische Sinn“ dagegen hat eigentlich bis heute keine Parallele in den
verschiedenen Auslegungsmethoden, handelt er doch von der „Verherrlichung“
der Inkarnation Gottes in dem Menschen Jesus, dem „Christus“ oder „Sohn
des Menschen“.
Der
„buchstäbliche Sinn“, der die Theologen heute fast ausschließlich beschäftigt
und zu dem sie viel Erhellendes erarbeitet haben, wird von Swedenborg im
allgemeinen nicht näher behandelt, sondern als aus dem Wortlaut hervorgehend
vorausgesetzt. Man muß auch bedenken, daß im 18. Jh. die zu seiner Erläuterung
unerlässlichen Hilfswissenschaften noch in den allerersten Kinderschuhen
steckten.
Eingestreut
zwischen die einzelnen Kapitel der Bibelauslegung findet man Visionsberichte und
theologische Abhandlungen, die Swedenborg später in erweiterter Form gesondert
herausgegeben hat. Zu den Visionsberichten gehören auch die Kapitel über den
„Homo Maximus“, den Größten oder – wie gewöhnlich übersetzt wird –
„Großmenschen“.
Die
Sprachgestalt der vorliegenden, über hundert Jahre alten Übersetzung
erleichtert das Verständnis nicht. Aber dieser Mangel erklärt im Grunde auch
nicht, weshalb es dem unvorbereiteten Leser schwer fällt, den Inhalt des Werkes
zu erfassen; denn selbst das lateinische Original, acht Quartbände mit 4500
Seiten 1749-1756 in London publiziert, läßt ein rasches, ungehindertes
Eindringen nicht zu. Dabei ist Swedenborgs lateinischer Stil denkbar klar und
einfach. Es muß also wohl am Inhalt liegen, für dessen Verständnis vielen
Lesern die Voraussetzungen fehlen. Darum soll hier einiges darüber gesagt
werden.
1.
Wissenschaft und symbolische Bibelauslegung
Zwei
Jahrhunderte intensiver wissenschaftlicher Forschung auf allen Gebieten haben
seit dem 18. Jahrhundert unser Weltbild aufs gründlichste verändert. Am
sichtbarsten ist das der Fall auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und
Technik, nicht minder nachhaltig aber auch auf dem Gebiet der
Humanwissenschaften, der Religionswissenschaft und der Theologie. Auf vieles ist
ein neues Licht gefallen, das noch vor kurzem entweder im dunkeln lag oder aber
durch das oft trügerische Licht einer unausgegorenen Aufklärung zu Unrecht ins
Dunkel mittelalterlichen Aberglaubens verwiesen worden war. Wie steht es nun in
dieser Hinsicht mit Swedenborgs „symbolischer“ Bibelauslegung? Spricht die
Forschung der letzten zweihundert Jahre für oder gegen ihre Berechtigung?
2.
Swedenborg über Vorbildungen und Entsprechungen
Geben
wir Swedenborg zunächst selbst das Wort über seine Auslegungsmethode! Wir
werden sehen, daß es nur bedingt richtig ist, sie als eine symbolische zu
bezeichnen, wie es heute üblich geworden ist. Sie geht nämlich nicht von der
Annahme aus, daß der Wortlaut der Bibel Symbole, sondern daß er
„Vorbildungen“ (Repräsentationen) und „Entsprechungen“
(Korrespondenzen) geistiger und himmlischer Wahrheiten enthält, teilweise sogar
gänzlich daraus besteht. Über das Wesen dieser Vorbildungen und
Entsprechungen, ohne deren Kenntnis jeder Versuch des Eindringens in die
eigentlichen Tiefenschichten der Bibel oder anderer echter Mysterienschriften
vergeblich wäre, äußert sich Swedenborg folgendermaßen:
„Wer
nicht weiß, daß es eine geistige Welt gibt und daß sie sich von dernatürlichen
unterscheidet, kann auch nichts von den Vorbildungen und Entsprechungen wissen;
denn das Verhältnis der Entsprechung besteht zwischen den Dingen der geistigen
und denen der natürlichen Welt, und was von den geistigen Dingen her in den natürlichen
existiert, sind Vorbildungen geistiger und himmlischer Dinge im Natürlichen“.
Gegen
diese Behauptung wird sich vermutlich noch wenig Widerspruch erheben; denn daß
die Realität in zwei verschiedene, miteinander in unerklärlicher Weise
korrespondierende Bereiche, den des Stoffs und den des Geistes, gegliedert ist,
liegt vor aller Augen. Anders wird es, wenn Swedenborg als Seher die geistige
Welt folgendermaßen definiert:
„Sie
ist allenthalben, wo Geister und Engel sind, während die natürliche Welt dort
ist, wo die Menschen sind. Im besonderen aber ist die geistige und die natürliche
Welt bei einem jeden Menschen: sein inwendiger Mensch ist für ihn eine geistige
Welt, sein äußerer eine natürliche Welt. Die Dinge, welche aus der geistigen
Welt einfließen und sich in der natürlichen darstellen, sind im allgemeinen
Vorbildungen, und soweit sie zusammenstimmen, Entsprechungen.“
3.
Gibt es eine geistige Welt?
Schon
zu Swedenborgs Zeiten hatte sich von seiten der aufblühenden Naturwissenschaft
starker Zweifel am „Geisterglauben“ geregt, und seit mehr als hundert Jahren
ist unser ganzes abendländisches Bildungs- und Erziehungswesen darauf
ausgerichtet, jeden Gedanken an das Vorhandensein von Geistern, Engeln oder Dämonen
als mit dem wissenschaftlichen Weltbild unvereinbaren Aberglauben ins Lächerliche
zu ziehen. In Tat und Wahrheit aber ist nicht nur die Naturwissenschaft bis
heute den Beweis für das Nichtvorhandensein übersinnlicher Wesen schuldig
geblieben, sondern erleben wir gerade in unseren Tagen als Ergebnis der „neuen
Wissenschaft“ der Parapsychologie, was Hans Driesch, der große Biologe
und parapsychologische Forscher, die „Rehabilitierung der Geister“ genannt
hat. Der Glaube an die Unsterblichkeit setzt nun aber das Vorhandensein einer
gleichzeitig mit der materiellen Welt bestehenden geistigen Welt voraus, in der
die von der Erde Abgeschiedenen als Geistwesen weiterleben können, sonst könnte
nur von einer Auferweckung der nach Leib und Seele Toten bei der Wiederkunft
Christi zum Weltende und allgemeinen Gericht die Rede sein. Aber Christus selbst
setzt die Gleichzeitigkeit zweier Schöpfungs-Ebenen, der materiellen und der
geistigen, sowie ein Fortleben unmittelbar nach dem Tode voraus, wie das auch
bei den meisten anderen Hochreligionen der Fall ist. Und diese geistige Welt ist
nicht etwa weniger real, sie ist im Gegenteil realer als die materielle! Das
Leben darin ist intensiver, weil frei von körperlichen Begrenzungen. Wie Jesus
über ein Fortleben nach dem Tode dachte und lehrte, erfährt man im Werk
„Himmel und Hölle“.
4.
Von der Rangordnung der beiden Welten
Aber
die Anerkennung der Existenz einer zweiten Daseinsebene jenseits unserer körperlichen
Sinne allein genügt noch nicht. Um das Wesen der Vorbildungen und
Entsprechungen zu erfassen, muß man auch etwas von ihrem Verhältnis zur
sichtbaren Welt, besser gesagt, von ihrer Rangordnung dieser gegenüber wissen.
Swedenborg kleidet es in folgende Sätze:
„Daß
das Natürliche Geistiges vorbildet oder ihm entspricht, kann man auch daraus
wissen, daß das Natürliche keineswegs existieren könnte, wenn nicht aus einer
früheren Ursache, das heißt aus dem Geistigen. Natürliches, dessen Ursache
nicht von daher abgeleitet wäre, kann es nicht geben. Die natürlichen Formen
sind Wirkungen… Somit bilden alle natürlichen Dinge etwas vor, das den
geistigen Dingen angehört, denen sie entsprechen – ja die geistigen Dinge
ihrerseits bilden wiederum etwas vor, das zu den himmlischen Dingen gehört, aus
denen sie selbst stammen.“
Swedenborg
kennt nur eine Quelle des Lebens: Gott, den Schöpfer. Er setzt die Endzwecke,
die letzten Ziele für alles, was er schafft.
Die geistigen Welten aber – und dazu gehört auch der irdische Mensch als ein
geistiges Wesen – hat Gott dazu bestimmt, dass sie an der Verwirklichung
seiner Ziele mitarbeiten, indem sie in Freiheit die entsprechenden Ursachen
dessen setzen, was dann in der materiellen Welt zur Wirkung im Letzten, im Äußersten
der göttlichen Schöpfung führt. Die geistige Welt ist daher die „Welt der
Ursachen“, die natürliche die „Welt der Wirkungen“. Wenn dem aber so ist,
dann ist Swedenborgs Folgerung vollkommen logisch:
„Aufgrund
langjähriger Erfahrungen weiß ich, daß in der natürlichen Welt und ihren
drei Reichen gar nichts existiert, was nicht etwas in der geistigen Welt
vorbildet, bzw. was nicht dort etwas hätte, dem es entspricht…Der Mensch
kann, solange er im Körper lebt, wenig davon fühlen und innewerden, denn das
Himmlische und Geistige bei ihm fällt ins Natürliche seines äußeren
Menschen, und hier verliert er die Empfindung und das Innewerden derselben. Das
Vorbildende und Entsprechende seines äußeren Menschen ist auch so beschaffen,
daß es demjenigen keineswegs zu gleichen scheint, dem es im inneren Menschen
entspricht und welches es vorbildet. Daher kann der Mensch keine Kenntnis von
ihnen haben, bevor er selbst nicht jener Äußerlichkeiten entkleidet ist. Selig
dann, wer in Entsprechung ist, das heißt, wessen äußerer Mensch seinem
inneren entspricht.“
Erst
ein solcher Mensch ist Swedenborg zufolge wieder ganz. Er sagt einmal: „Gott
will den Menschen, den er wiedergebiert, ganz haben und nicht nur zum Teil“.
Hier sind wesentliche Gedanken des modernen Menschenbildes bereits in aller
Deutlichkeit niedergelegt und warten nur darauf, entdeckt und einbezogen zu
werden.
5.
Verlust der Beziehung zur geistigen Welt
Die
Veräußerlichung, d.h. die Überbewertung der mit den körperlichen Sinnen
wahrnehmbaren äußeren Dinge gegenüber den nur durch Verinnerlichung zu
erfahrenden Erscheinungen der inneren, geistig-himmlischen Bereiche ist das
Ergebnis dessen, was die Bibel mit dem „Sündenfall“ bezeichnet. Vorher war
es so, wie wir es noch heute in schwacher Andeutung bei einigen Naturvölkern
beobachten können, für die die gesamte sie umgebende Natur Ausdruck geistiger
Potenzen ist, wohl am schönsten beschrieben von Laurens van der Post in
seinen Büchern über die Buschmänner der Kalahari-Wüste.
Bei
Swedenborg heißt es:
„Weil
die Menschen der Ältesten Kirche in den einzelnen Erscheinungen der Natur etwas
Geistiges und Himmlisches erblickten, so daß die natürlichen Dinge ihnen nur
zu Gegenständen des Nachsinnens über die geistigen und himmlischen Dinge
dienten, konnten sie mit den Engeln reden und mit ihnen im himmlischen Reiche
des Herrn beisammensein, während sie selbst noch seinem Reiche auf Erden, der
Kirche, angehörten. Bei ihnen war so das Natürliche mit dem Geistigen
verbunden und entsprach völlig. Anders wurde es nach jenen Zeiten, als das Böse
und Falsche zu herrschen anfing … Da wurde, weil kein Entsprechendes mehr
vorhanden war, der Himmel verschlossen – so weit, daß die Menschen schließlich
kaum mehr wissen wollten, daß es etwas Geistiges, ja nicht einmal, dass es
einen Himmel und eine Hölle sowie ein Leben nach dem Tode gibt.“
6.
Der Entsprechungscharakter unseres Körpers
Dabei
muß gar nicht weit suchen, wer eine Vorstellung davon erlangen will, was unter
Vorbildungen und Entsprechungen zu verstehen ist. Sie sind nämlich vor allem
einmal in uns selbst zu finden, und wir machen ununterbrochen von ihnen
Gebrauch, ohne daß wir uns darüber Rechenschaft geben:
„Um
einen Begriff von den Vorbildungen und Entsprechungen zu gewinnen,denke man nur
daran, wie Denken und Wollen, die doch dem Gemüt angehören, derart aus dem
Antlitz hervorzuleuchten pflegen, daß sie in dessen Mienen erscheinen. Wenn nun
Antlitz und Gemüt zusammenstimmen, so sagt man, daß sie einander entsprechen.
Die Mienen des Angesichts selbst aber bilden vor, sind Vorbildungen. Dasselbe
gilt für Körperbewegungen sowie für alle Handlungen, die von den Muskeln
ausgeführt werden. Sie alle geschehen bekanntlich gemäß dem, was der Mensch
denkt und will. Die Bewegungen und Handlungen als solche sind zwar etwas Körperliches,
bilden aber Seelisches vor, sind also Vorbildungen.“
Aber
Swedenborg geht, was den Entsprechungscharakter unseres Körpers betrifft, noch
viel weiter; er schreibt:
„Es
ist eines der größten Geheimnisse vor der Welt… , daß alles im menschlichen
Körper Himmlischem entspricht, und zwar soweit, dass nicht das allerkleinste
Teilchen darin zu finden ist, dem nicht etwas Geistiges und Himmlisches oder –
was dasselbe ist – himmlische Gesellschaften entsprächen. Diese himmlischen
Gesellschaften bestehen nämlich aus allen Gattungen und Arten des Geistigen und
Himmlischen und sind derart geordnet, daß sie zusammen einen einzigen Menschen
darstellen … Daher wird auch der Himmel in seiner Ganzheit als der ,Homo
Maximus‘, der Größte Mensch, bezeichnet.“
Diesem
„Homo Maximus“ und seiner geheimnisvollen Beziehung zum menschlichen Körper
hat Swedenborg in den „Himmlischen Geheimnissen“ eine ganze Reihe von
Zwischenkapiteln gewidmet.
7.
Der Entsprechungscharakter der ganzen Welt
Von
hier aus versteht man eher, was Swedenborg über den Entsprechungscharakter der
ganzen sichtbaren Welt anhand einiger Beispiele sagt:
„…
Daher beschrieben die Griechen gewöhnlich die Sonne, die Bezeichnung der Liebe,
durch einen Wagen mit vier feurigen Rossen, den ihr Gott der Weisheit und
Einsicht lenkte. Den Ursprung der Wissenschaft aus dem Verstand stellten sie als
fliegendes Pferd dar, dessen Huf eine Quelle aufbricht, an der Jungfrauen
sitzen, die die Wissenschaften symbolisieren ... Auch heute sind das fliegende
Pferd, der Pegasus, und die Quelle Symbole von Vernunft und Bildung als überkommener
Brauch von den alten Griechen. Kaum jemand kennt aber den mystischen Sinn des
Pferdes als das Verständige und der Quelle als Wahrheit.“
Diese
sich in Entsprechungen und Vorbildungen des Buchstabens kleidende Offenbarung
bedingt, wie Swedenborg sagt,
„daß
jedes Wort (der Hl. Schrift) bis auf das allerkleinste Jota – man
muß hinzufügen: soweit es nicht bei der Überlieferung verändert wurde –
Geistiges und Himmlisches in sich schließt, und daß die Hl. Schrift inspiriert
ist. Das heißt: wenn sie von einem
Menschen gelesen wird, so fassen es die bei ihm weilenden Engel und Geister
sogleich geistig auf, gemäß den Vorbildungen und Entsprechungen. Aber diese
Wissenschaft, die von den Alten nach der Sintflut so ausgebildet und geschätzt
worden war, und durch die sie in Gemeinschaft mit den Geistern und Engeln denken
konnten, ist in der jetzigen Zeit völlig in Vergessenheit geraten – so sehr,
daß kaum jemand glaubt, daß es sie gibt, und die es glauben, halten sie nur für
etwas Mystisches, das keinen Nutzen hat. Dahin konnte es nur kommen, weil der
Mensch derart weltlich und fleischlich geworden ist, daß er, sobald auch nur
das Geistige und Himmlische genannt wird, ein Widerstreben, einen Überdruß, ja
einen Ekel empfindet. Was wird er nun im anderen Leben tun, welches ewig währt
und wo nichts Weltliches und Körperliches, sondern nur Geistiges
und Himmlisches ist, welches das Leben im Himmel ausmacht?“
Swedenborg
hat die Wiederbelebung der – namentlich im Abendland – lange Zeit in
Vergessenheit geratenen Wissenschaft von den Vorbildungen und Entsprechungen als
den wichtigsten Teil seiner Sendung betrachtet. Auf das grundlegende Gesetz der
Entsprechung zwischen dem Geistigen und dem Natürlichen war er bereits während
seines Forschens nach dem Zusammenhang zwischen Seele und Leib in den seiner
religiösen Berufung unmittelbar voraufgehenden Jahren gestoßen. In der visionären
Schau, die immer den engsten Zusammenhang mit seinem intensiven Bibelstudium
wahrt, wird ihm dann in überwältigender Deutlichkeit klar, daß die innere
Struktur der Bibel in ihrem Verhältnis zwischen Geist und Buchstabe, innerem
und äußerem Sinn, dasselbe Grundgesetz der Schöpfung widerspiegelt.
Aber
Swedenborg begnügt sich nicht mit dieser allgemeinen Behauptung, er bemüht
sich vielmehr um den Nachweis im einzelnen. Daß er dabei systematisch vorgeht
und alle biblischen Vorbildungen und Entsprechungen letztlich auf ein sehr
einfaches Koordinatensystem bezieht, dessen Achsen durch die Begriffspaare gut/böse,
wahr/falsch gekennzeichnet sind, wird ihm nur Unverstand als Einseitigkeit
ankreiden wollen. In Wirklichkeit gelingt es ihm auf diese Weise, die uns oft
historisch so fernliegenden Texte der Bibel auf unser sittliches und religiöses
Leben zu beziehen und sich dabei doch immer im Rahmen des Nachweisbaren zu
halten.
Freilich
benötigt der Leser, kommt es ihm auf den Beweis an, häufig einen langen Atem.
Er muß sich eine gründliche Kenntnis der Swedenborg’schen Bibelauslegung
erwerben, ehe er den lückenlosen Zusammenhang überblickt, der sie
charakterisiert. Nur beharrliches Studium (möglichst mithilfe einer Konkordanz)
zeigt, daß es sich bei den Entsprechungen um eine durchgehende Gesetzmäßigkeit
in der Struktur der Bibel handelt, so daß, was an einer Stelle über die
geistige Bedeutung eines Begriffs ausgesagt wurde, auch an anderen Stellen –
selbstverständlich in der dem jeweiligen Zusammenhang gemäßen Abwandlung –
seine Gültigkeit behält. So versteht man, daß der geduldige Leser reich
belohnt wird, während der flüchtige, vielleicht von vorneherein negativ
eingestellte Leser leer ausgeht.
8.
Was sagt die wissenschaftliche Forschung zu alledem?
Wie
nimmt sich nun, was Swedenborg über die Vorbildungen (das von ihm verwendete
lateinische Wort ist „repraesentatio“) und Entsprechungen sowie über die
„Wissenschaft der Entsprechungen“
bei
den Alten sagt, vor dem Hintergrund der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse
aus? Einige Zitate aus der religionswissenschaftlichen Literatur unserer Tage müssen
genügen, um zu belegen, daß Swedenborg mit seiner Entdeckung in der Tat eine
Goldader angeschlagen hat, und daß seine Auslegungsmethode vorwegnimmt, was als
neueste wissenschaftliche Einsicht gilt. Wir stellen an den Anfang einige Sätze
aus einer Arbeit des Bonner Gelehrten Jürgen Rausch über „Mythische
und technische Existenz“. Darin begegnen sogar die gleichen Fachausdrücke wie
bei Swedenborg, so daß die Parallelen deutlich sichtbar werden. Rausch
schreibt:
„Im
Alten Testament heißt es, der Mensch sei nach dem Bilde Gottes geschaffen …
In diesem Gedanken liegt sehr viel, jedenfalls mehr, als manche Menschen mit dem
Schlagwort ,Anthropomorphismus‘ glauben erledigen zu können. Denn zuerst
liegt darin, daß der Mensch nach dem Bilde Gottes, nicht aber Gott nach dem
Bilde des Menschen geschaffen sei. Nicht also wird hier Gott anthropomorph
gesehen, sondern umgekehrt, der Mensch theomorph. Da aber diese besondere
Bildhaftigkeit nicht nur eine Gabe, sondern eine Aufgabe ist, heißt es, der
Mensch habe darzustellen, was Gott sei.“ „Diese Darstellung des Göttlichen,
der Ordnung, des Ursprungs … hat der mythische Mensch in seinem das ganze
Leben erfassenden Kult geleistet. Sein Kalender, seine Gesellschaftsordnung,
seine Bauweise, seine Maß- und Gewichtssysteme, seine Kleidung und natürlich
seine Kulthandlungen im engeren Sinne tragen alle einen das Göttliche vergegenwärtigenden,
also einen im Wortsinn repräsentativen Charakter.“
Swedenborg
hat den repräsentativen oder vorbildenden Charakter des Kultes der Menschheit
des Altertums schon vor über zweihundert Jahren klar erkannt und immer wieder
bis ins einzelne beschrieben, so besonders deutlich in seinem dogmatischen
Hauptwerk „Die wahre christliche Religion“, wo er zugleich auch betont, dass
das, was die Grundlage dieses Kultes bildete, nämlich die Idee der Entsprechung
der beiden Schöpfungsebenen, nach wie vor Gültigkeit hat, einfach weil sie in
der Wirklichkeit gründet:
Es
„ist mir gezeigt worden, daß … alles bis ins einzelnste geistigen Dingen
entspricht. Man hat aber bisher nicht gewußt, was Entsprechung ist. In den ältesten
Zeiten hingegen war es vollständig bekannt; denn für die Menschen der
damaligen Zeit war es eine eigentliche Wissenschaft, ja die Wissenschaft und so
allgemein bekannt, daß sie all ihre Bücher und Schriften in Entsprechungen
schrieben … Das Wesen aller alten Kirchen bestand darin, daß sie Geistiges
vorbildeten (repräsentierten). Ihre Riten und Satzungen … bestanden in lauter
Entsprechungen. Ebenso war es bei den Kindern Israel: Die Brandopfer und Sühnopfer,
sowie die Speise- und Trankopfer waren bis in die Einzelheiten ihres Vollzugs
hinein Entsprechungen, ebenso die Stiftshütte mit allem Drum und Dran, auch
ihre Festzeiten … ferner das Priestertum … sowie die heiligen Gewänder …
Hinzugefügt werden soll noch, daß auch alle Satzungen und Rechtsbestimmungen,
die ihren Gottesdienst und ihr Leben betrafen, Entsprechungen waren. Da sich
also die göttlichen Dinge in der Welt als Entsprechungen darstellen, so ist
auch das Wort Gottes in lauter Entsprechungen geschrieben, und deshalb bediente
sich der Herr, der ja aus dem Göttlichen heraus sprach, ebenfalls der
Entsprechungen. Denn was aus dem Göttlichen hervorgeht, das fällt in der Natur
in solche Dinge hinein, die den göttlichen Dingen, die man auch himmlisch und
geistig nennen kann, entsprechen und die sie dann gleichsam in ihrem Schoße
bergen.“
Wenn
wir bei Rausch weiterlesen, so könnte man – abgesehen von der etwas anderen
Diktion – meinen, es handle sich um die Fortsetzung des obigen
Swedenborg-Zitats:
„Sein
Leben wird also gelebt als Feld für die Darstellung eines höheren, mächtigeren
Seins, das ,Götter‘, ,Mächte‘ oder wie immer heißen kann, und die Ordnung
dieses Lebens ist heilig, weil in ihr sich das himmlische Muster ausdrückt. Wie
man das Leben der Geschlechter regelte, wie man Städte baute und Tote begrub,
was man nicht aß und nicht berührte – alles diente zur Repräsentation, also
zur Vergegenwärtigung einer höheren Wirklichkeit in dieser Realität. Diese
Vergegenwärtigung war eine Antwort des Menschen auf den Anspruch … der Götter.
Antworten ist aber sprachlich dasselbe wie entsprechen. Dieser Mensch erlebte
sich also als ein ,entsprechendes Wesen‘. Die Entsprechung bestand in der
Darstellung des Göttlichen. Das Göttliche erschien, und dies umso leichter,
als man die Realität gewissermaßen für transparent oder porös hielt: Die
Transparenz konnte sie an jeder Stelle und zu jeder Zeit heiligend durchdringen
und sie durch diesen vertikalen Einbruch herauslösen aus den horizontalen Bezügen.“
In
diesem Zusammenhang dürfte interessieren, was Swedenborg über die repräsentative
bzw. vorbildende Bedeutung des Altars bei den Hebräern schreibt:
„Der
Altar, auf dem sie opferten, war die wichtigste Vorbildung (repraesentatio) des
Herrn. Deshalb bildete er die Grundlage des Gottesdienstes der Alten Kirche,
welche als hebräische bezeichnet wurde, und deshalb war auch alles und jedes,
woraus der Altar errichtet wurde, vorbildend, z.B. seine Größenverhältnisse,
also Höhe, Breite und Länge, seine Steine, sein netzförmiges Gitter aus Erz,
seine Hörner, ferner das Feuer, das beständig darauf unterhalten wurde, sowie
die Schlacht- und Brandopfer, die darauf dargebracht wurden. Das Wahre und Gute,
das des Herrn ist und von ihm stammt, war es, was sie vorbildeten. Dieses Wahre
und Gute war das Innere ihres Gottesdienstes … Höhe, Breite, Länge des
Altars bezeichneten das Gute, das Wahre und das daraus entstehende Heilige. Die
Steine bedeuteten die untergeordneten Wahrheiten, das Erz des netzförmigen
Gitters um den Altar das natürliche Gute, die Hörner die Macht, die dem Wahren
eignet, das im Guten verankert ist, das Feuer auf dem Altar die Liebe; die
Schlacht- und Brandopfer schließlich das Himmlische und Geistige, gemäß ihren
verschiedenen Arten… Aber die Angehörigen der Ältesten Kirche kümmerten
sich nicht um diese äußeren Dinge, weil sie innerliche Menschen waren und der
Herr auf dem inneren Wege bei ihnen einfloß und sie über das Gute und Wahre
belehrte. Die Mannigfaltigkeiten und Unterschiede des Guten bildeten bei ihnen
die Wahrheiten. Von daher wussten sie, was alle weltlichen Dinge im Reich des
Herrn vorbildeten; denn die ganze Welt ist ein Schauplatz von Vorbildern des
Reiches des Herrn.“
Dies
deckt sich auch völlig mit den Ansichten eines anderen führenden
Religionshistorikers unserer Zeit, M. Eliade, in „Kosmos und
Geschichte“:
„Das
rohe Produkt der Natur und nicht weniger der durch menschliche Hand bearbeitete
Gegenstand erlangen (für den archaischen Menschen) Wirklichkeit und Identität
nur in dem Maße, als sie einer transzendenten Wirklichkeit teilhaftig sind. Ein
Akt erhält Sinn und Wirklichkeit ausschließlich in dem Maße, als er eine urtümliche
(d.h. transzendentale, himmlische) Handlung wiederholt.“
Eliade
führt viele Beispiele an, um „die Struktur dieser archaischen Ontologie (d.h.
Seins-Lehre) besser zu erkennen“, und gliedert sie nach folgenden
Gesichtspunkten:
„1.
Beispiele, die uns zeigen, daß für den archaischen Menschen die Wirklichkeit
eine Funktion der Nachahmung eines himmlischen Urbilds ist (das
von Swedenborg verwendete lateinische „repraesentatio“ heißt zugleich auch
Darstellung oder Nachahmung – d. H.); 2. Beispiele, die uns zeigen, wie die
Wirklichkeit verliehen wird durch die Teilhabe an der ,Symbolik des
Mittelpunkts‘: Städte, Häuser werden wirklich, weil sie dem ,Mittelpunkt der
Welt‘ ähnlich gemacht werden; 3. schließlich die bezeichnenden Riten und
Profanhandlungen, die den ihnen beigelegten Sinn nur verwirklichen können, weil
sie mit Vorbedacht Akte wiederholen, die ab origine (d.h. vom Ursprung her) von
Göttern, Heroen oder Ahnen gesetzt worden sind.“
Unter
dem Titel „Himmlische Archetypen“ (d.h. Urbilder) von Ländern, Tempeln und
Städten“ erwähnt Eliade die alte iranische Schöpfungslehre. Darin
„entspricht
jedes irdische Phänomen einem himmlischen, transzendenten, unsichtbaren Wort,
einer ,Idee‘ im platonischen Sinn. Jedes Ding, jeder Begriff erscheint unter
einem doppelten Aspekt: dem des menok und dem des getik. Es gibt einen
sichtbaren Himmel: also gibt es auch einen menok-Himmel, der unsichtbar ist.
Unsere Erde entspricht einer himmlischen Erde. Jede Kraft hier unten . . .
besitzt ein himmlisches Gegenstück, das die wahre Wirklichkeit darstellt. . .
Die Schöpfung ist ganz einfach doppelt.“
Als
Beispiele aus dem biblischen Bereich werden von Eliade vor allem der Tempel und
die heilige Stadt der Juden, Jerusalem, erwähnt:
„Auf
dem Berg Sinai zeigt Jahve Moses die ‚Gestalt‘ des Heiligtums, das dieser
ihm bauen soll: ,Wie ich dir ein Vorbild der Wohnung und aller ihrer Geräte
zeigen werde, so sollt ihr es machen (2. Mose 25, 8-9). ,Und siehe zu, daß du
es machst nach ihrem Bilde, das du auf dem Berge gesehen hast‘ (2. Mose 40).
Ähnliches gilt auch für die heilige Stadt: ‚Ein himmlisches Jerusalem ist
von Gott geschaffen worden, bevor die Stadt Jerusalem von Menschenhand erbaut
wurde‘.“
Was
die von Eliade als besonders wichtig betrachtete „Symbolik des Mittelpunkts“
bei den archaischen Menschen betrifft, so hat sich auch ein anderer französischer
Forscher, Rene Guénon, der Begründer der Lehre von der „Heilen Überlieferung“,
intensiv damit befaßt, wobei er mehrfach auf Swedenborg, besonders auf dessen
Lehren vom sogenannten Alten Wort, verweist. In einer Weise, die unmittelbar an
dessen Theorie – besser gesagt: Schau – erinnert, zeigt er, daß die großen
religiösen Zentren das geheimnisvolle Zentrum der Welt „abbilden“ oder
„darstellen“, von dem die Urtradition weiß. Henry Corbin, ein
anderer führender französischer Religionswissenschaftler unserer Tage, hat
mehrfach auf die erstaunlichen Parallelen zwischen der alt-iranischen Mystik und
der Schau Swedenborgs hingewiesen. Kein Wunder, daß Corbin zu den Bewunderern
Swedenborgs zählt, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil dieser, ohne von einer
noch lebendigen Überlieferung getragen zu sein, wie die iranischen Mystiker, zu
seinen Ergebnissen gekommen ist, was auf einen ganz ungewöhnlichen Grad der
Erleuchtung schließen läßt.
In
neuester Zeit hat der Paderborner Theologe, Philosoph und Psychoanalytiker Eugen
Drewermann in seinem umfangreichen Werk „Tiefenpsychologie und Exegese“
eindrucksvoll gezeigt, dass die historisch-kritische Methode der Bibelauslegung
– so viel Wertvolles sie auch über die unterschiedlichen Formen der überlieferten
Texte erarbeitet hat – nichts zur religiösen Interpretation der Texte
beizutragen vermag.
9.
Hat uns diese Schau heute noch etwas zu sagen?
Wir
könnten mit ähnlichen Hinweisen und Zitaten lange fortfahren, aber dem
aufmerksamen Leser dürfte längst klar geworden sein, daß unsere Behauptung,
Swedenborgs Auslegungsmethode habe Erkenntnisse der modernen
Religionswissenschaft auf ihrer Seite, keineswegs abwegig ist. Ob wir die
Auffassung des archaischen oder mythischen Menschen vom Aufbau und Zusammenhang
der geistig-himmlischen und der materiellen Welt noch zu teilen vermögen, steht
freilich auf einem anderen Blatt. Sicher aber ist, daß die Bibel schon deshalb
nur unter ständigem Bezug darauf ausgelegt werden kann, weil ihre Schreiber –
wenn auch meist unbewußt – noch in dieser Tradition standen und nur so
verstanden werden können.
Aber
wenn wir uns ernsthaft fragen, was denn nun eigentlich heute gegen die
Annahme jener vom archaischen Menschen geglaubten oder geschauten höheren
Wirklichkeit spricht, deren Präsenz allein den raum-zeitlichen Dingen
Wirklichkeit verleiht, so werden wir eingestehen müssen: nichts! Haben
wir etwa nicht aufgrund der neuen und neuesten naturwissenschaftlichen
Erkenntnisse Einblick in einen allem Bestehenden zugrundeliegenden, also übergeordneten
Plan, der von einer derart unglaublichen „Intelligenz“ zeugt, daß wir
aus dem Staunen – sofern wir es nicht grundsätzlich verlernt haben – gar
nicht mehr herauskommen und vor dem die von unseren Sinnen wahrgenommenen
Dinge bloß als „letzte Wirkungen“ erscheinen? Und ist es nicht gerade dies,
was der archaische Mensch mit seiner Unterscheidung zweier Schöpfungsbereiche,
zweier Wirklichkeiten – einer urbildlichen und einer abbildlichen – auf
seine Weise ausdrücken wollte?
Ohne
Kenntnis von Swedenborgs epochemachender Bibelauslegung hat der Tübinger
Gelehrte Wolfgang Kretschmer in seiner leider viel zu wenig beachteten
Arbeit „Die Psychologische Weisheit der Bibel, Urbilder des Seins und Werdens
im Schöpfungsbericht“ den Versuch unternommen, die Entsprechungen und
Vorbildungen der drei ersten Kapitel der Bibel auf die Wachstumsprozesse der
menschlichen Seele zu beziehen. Das Ergebnis trifft an erstaunlich vielen
Punkten mit dem überein, was Swedenborg vor gut 200 Jahren darüber in den
entsprechenden Kapiteln der „Himmlischen Geheimnisse“ und anderswo schrieb.
Im Zusammenhang mit seiner Deutung von 1. Mose 1, 26 – „herrschet über die
Fische des Meeres usw.“ – sagt Kretschmer:
„Gott
gibt nie rein technische Aufträge, am wenigsten in einem Schöpfungsmythos, der
den Urgrund der Welt beschreibt. Auch die Bauanweisung der Arche Noah kann uns
nur als Anleitung zur inneren Rüstung ,angehen‘. Echte Mysterienbücher sind
so sehr innerlich, so sehr um Erkenntnistiefe und sittliche Wandlung bemüht, daß
sie keine technischen oder organisatorischen Aufträge schildern, die nicht
engstens auf die Seele bezogen wären. Danach haben wir zu suchen, gleich ob
unser historisch-gegenständliches Interesse sich befriedigen läßt oder nicht.
Die Bibel vertritt vom ersten bis zum letzten Blatt den Primat des Inneren,
selbst da, wo sie Schlachten und formale Gesetze mitteilt.“
Die
Übereinstimmung mit Swedenborg ist offenkundig, und so erstaunt es denn auch
kaum, daß Kretschmer in seinem Geleitwort zur Neuausgabe der beiden ersten
Kapitel der „Himmlischen Geheimnisse“ schreibt:
„Als
ich seinerzeit dabei war, die beiden ersten Kapitel des Buches derSchöpfung zu
erläutern, kannte ich Swedenborgs entsprechende Vorarbeit noch nicht. Nachdem
ich nunmehr den Text des Anfanges der ,Himmlischen Geheimnisse‘ in seiner
klaren Neufassung gelesen habe, ist es mireine Freude, dazu Stellung zu
nehmen.“
Kretschmer
kommt zunächst auf die unterschiedlichen Bedingungen zu sprechen, die
Swedenborg zu seiner Zeit vorfand, und fährt fort:
„Wenn
meine Untersuchungsergebnisse dennoch verschiedentlich mit den Positionen
Swedenborgs in frappanter Weise übereinstimmen, so liegt das am methodischen
Vorgehen, d.h. am Suchen nach dem ,inneren Sinn‘,dem symbolischen Gehalt des
Textes … Im übrigen glaube ich, daß es kaum jemand bedauern wird, durch die
Fülle anregender Gedankengänge hindurch die Gestalt jenes Mannes zu erblicken,
der als derklassische Meister symbolischer Bibelauslegung in der Neuzeit
angesehen werden muß.“
10.
Scheinbare oder relative Wahrheiten in der Bibel
Noch
ein Letztes muß gesagt werden, um Swedenborgs Bibelauslegung recht würdigen zu
können: Er hat erkannt, daß sehr vieles im Buchstaben so gesagt ist, wie es
dem Menschen erscheint, nicht wie es ist. Dazu gehören die zahlreichen Aussprüche
über Gottes Zorn und Strafgericht. Gottes Offenbarung paßt sich so dem
menschlichen Verständnis an. Wenn Jesus – Gottes fleischgewordenes „Wort“
– ausdrücklich sagt, Gott sei gütig auch gegen die Undankbaren und Bösen,
und wie Gott sollten auch wir unsere Feinde lieben (L 6, 36 f., Mt 6, 43-48), so
ist klar, daß nichts von Zorn in Gott ist. Uns aber, die wir Gottes Liebesgebot
mißachten, erscheinen oft die unausbleiblichen Folgen unseres Tuns fälschlich
als Ausdruck von Gottes Zorn. Swedenborg spricht immer wieder von den
„Scheinbarkeiten des Wahren“ (die oft dasselbe sind wie die
„Projektionen“ der heutigen Psychologie). So meinen wir, weil wir uns selbst
im Mittelpunkt stehen, statt um Gott zu kreisen, das Leben in uns selbst zu
haben, während es doch unausgesetzt von Gott her in uns einfließt. Ein
ortreffliches Beispiel, von Swedenborg mehrfach angeführt, bietet die Art, wie
wir Menschen die Sonne sehen: Von unserem Standpunkt aus geht sie morgens auf
und abends unter, während wir uns doch in Wirklichkeit kreisend um sie bewegen.
Friedemann
Horn
VORBEMERKUNGEN
DES VERFASSERS
1.
Das Wort des Alten Testaments enthält
Geheimnisse des Himmels, und alles und jedes darin hat eine Beziehung auf den
Herrn, seinen Himmel, die Kirche, den Glauben und das, was zum Glauben gehört.
Das ersieht kein Sterblicher aus dem Buchstaben; denn aus dem Buchstaben oder
dem Sinne des Buchstabens sieht niemand etwas anderes, als daß es sich im
allgemeinen auf das Äußere der jüdischen Kirche beziehe, während doch überall
ein Inneres ist, das im Äußeren nirgends offen vorliegt, ausgenommen sehr
weniges, das der Herr geoffenbart und den Aposteln erklärt hat, wie z.B. dass
die Opfer den Herrn bedeuten, das Land Kanaan und Jerusalem den Himmel, weshalb
dieser auch das himmlische Kanaan und Jerusalem genannt wird, desgleichen das
Paradies.
2.
Aber alles und jedes, ja das
allereinzelnste bis zum kleinsten Jota bedeutet Geistiges und Himmlisches und
schließt solches in sich. Darüber ist die Christenheit noch in tiefer Unkunde,
weshalb sie auch das Alte Testament wenig beachtet. Man könnte es jedoch schon
aus diesem einzigen Umstand wissen, daß das Wort, weil es des Herrn und vom
Herrn ist, nirgends sich (als solches) denken ließe, wenn es nicht innerlich
enthielte, was des Himmels, was der Kirche und was des Glaubens ist, da es sonst
nicht Wort des Herrn genannt und auch nicht gesagt werden könnte, daß ihm
einiges Leben innewohne. Denn woher sollte das Leben kommen, wenn nicht von dem,
was des Lebens ist, d.h., wenn nicht daher, daß alles und jedes sich auf den
Herrn bezieht, der das eigenste Leben ist? Deshalb lebt all das nicht, was nicht
inwendig auf ihn abzielt. Ja, kein Ausdruck im Wort, der nicht ihn in sich
schließt oder sich nach seiner Weise auf ihn bezieht, ist göttlich.
3.
Ohne ein solches Leben ist das Wort in
Ansehung des Buchstabens tot. Es verhält sich nämlich mit dem Wort wie mit dem
Menschen, der, wie in der Christenheit bekannt ist, ein äußerer und ein
innerer ist. Der äußere Mensch, getrennt vom inneren, ist der Leib und somit
tot. Der innere aber ist es, der lebt und dem äußeren Leben gibt. Der innere
Mensch ist seine Seele: so ist das Wort, bloß dem Buchstaben nach genommen, wie
ein Leib ohne Seele.
4.
Wenn man bei dem bloßen
Buchstabensinne stehen bleibt, kann nie ersehen werden, daß er dergleichen enthält,
wie z.B. dieser Anfang der Genesis. Aus dem Buchstabensinn erkennt man durchaus
nichts anderes, als daß von der Schöpfung der Welt und vom Garten Eden die
Rede ist, der das Paradies genannt wird, dann von Adam als dem erstgeschaffenen
Menschen. Wer ahnt wohl etwas anderes? Daß es aber Geheimnisse enthält, die
noch nie geoffenbart worden sind, wird aus dem folgenden hinlänglich klar
werden, und zwar, dass das erste Kapitel der Genesis im inneren Sinn von der
neuen Schöpfung des Menschen handelt oder von seiner Wiedergeburt im
allgemeinen, von der Ältesten Kirche im besonderen, und zwar so, dass nicht das
Kleinste eines Wortes übrigbleibt, das nicht etwas vorbildet, bedeutet und in
sich schließt.
5.
Kein Sterblicher kann aber je wissen,
daß dem so ist, außer aus dem Herrn. Daher mag vorläufig kund werden, daß
vermöge der göttlichen Barmherzigkeit des Herrn mir (E. Swedenborg) vergönnt
worden ist, schon einige Jahre lang fortwährend und ununterbrochen im Umgang
mit Geistern und Engeln zu leben, sie reden zu hören und wieder mit ihnen zu
reden. Daher sind mir im anderen Leben staunenswerte Dinge zu hören und zu
sehen gegeben worden, die nie zu eines Menschen Kenntnis, noch in seine
Vorstellung gekommen sind. Ich bin dort belehrt worden über die verschiedenen
Arten der Geister, über den Zustand der Seelen nach dem Tode, über die Hölle
oder den bejammernswerten Zustand der Ungläubigen, hauptsächlich aber über
die Glaubenslehre, die im gesamten Himmel anerkannt wird. Davon soll vermöge
der göttlichen Barmherzigkeit des Herrn im Folgenden mehreres erläutert
werden.