"Ihr werdet sein wie Gott"

Das "ihr werdet sein wie Gott" ist das Ziel unserer ganzen heutigen Zivilisation und Bildung  und der Geist, aus dem diese Worte hervorging, wurde durch den Weltfürsten verdreht.

Diesem Antichristen schenkt die große Masse noch Glauben. In einer solchen Zeit kann das Wort und das Beispiel des Menschensohnes, der allein groß genannt werden mag unter den Menschen, nur von wenigen noch verstanden werden. Die Herrschaft im Dienen, im Knechtsein; die Größe im Kinderstand, im Unmündigsein; das Erhalten des Lebens im Verlieren des Lebens; das Geborenwerden durchs Sterben; das Siegen im Unterliegen; das Genießen im Entsagen - das alles sind Dinge, über die unsere "aufgeklärte" Zeit sich weit erhaben dünkt, für die sie ganz und gar das Verständnis verloren hat.

Die Welt hat ihre "grossen Männer", und streut ihnen Weihrauch, und baut ihnen Denkmäler, und feiert ihnen Feste, und tanzt um ihre Götzen mit Sang und Klang. Sie mag das ihre behalten. Sie wird vergehen mit ihrer Lust und mit allem, was sie geliebt und gepriesen und vergöttert hat. Alle ihre Herrlichkeit, ihre Kunst und Wissenschaft, sinkt in den Staub. Aber den, der als der Letzte über dem Staube stehen wird, kennt sie nicht; für sein Wort, das in Ewigkeit bleibt, hat sie keinen Sinn.

Ebensowenig wenden wir uns an die Kirche. Sie ist nicht mehr wesentlich von der Welt verschieden, und fristet ihr Dasein nur durch ein immer innigeres Verschmelzen mit der Welt. Nur menschliche Weisheit kann in ihr noch zur Geltung kommen. Fähigkeiten und Kenntnisse, die durchaus unabhängig sind von lebendigem Glauben, wahrer Gottesfurcht und christlichem Wandel, geben die Berechtigung, sich auf die Stühle ihres Lehramtes zu setzen, und bahnen den Weg zu allen ihren Ämtern und Würden. Totes Wissen ist in ihr an die Stelle der göttlichen Erleuchtung getreten. Dem Geiste Gottes will sie nur unter der Bedingung das Wort gestatten, dass er sich unter die einmal aufgestellten Glaubenssätze beuge. Das Wort, das da ist wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt, darf ihre steinerne Orthodoxie nicht zertrümmern. Der Geist, der die Welten geschaffen hat, soll bei ihr den Dienst verrichten, wie etwa der Dampf in unseren Dampfmaschinen, um jeder Konfession und jeder Partei ihr eigenes Fabrikat zu erzeugen. Die Weingärtner haben den Weinberg unter sich geteilt, und der Herr des Weinbergs soll nichts mehr darein zu reden haben.

Leider ist der Begriff des wahren Christentums mitten in der Christenheit verloren gegangen, daß nur wenige eine Ahnung davon haben werden, was es heißen soll, im göttlichen Sinne ein Nichts zu werden. Alle Welt strebt danach, etwas oder gar sehr viel zu werden. Jeder möchte sich über den andern erheben; jeder will herrschen, und keiner gehorchen. Daher erblickt jeder in dem andern seinen Feind; daher der Streit des einen gegen den andern, und die Unzufriedenheit aller. Auch unter die Herrschaft Gottes will sich niemand mehr beugen. Zu keiner Zeit ist das Bestreben der Menschen augenscheinlicher dahin gerichtet gewesen, sich von Gott unabhängig zu machen, als eben jetzt.

Umso mehr muss es in den Augen derjenigen, die sich noch nicht an den Geist der Zeit verkauft und seiner Strömung willenlos hingegeben haben, als etwas Grosses erscheinen, wenn ihnen an einem lebendigen Beispiel nachgewiesen wird, dass jene scheinbaren Widersprüche sich wahrhaftig im Leben vereinigen lassen; dass es ein Hinabsteigen gibt, welches zu der Höhe der Vollendung in Gott führt; ein Nichts, das von dem göttlichen All erfüllt wird. Ein Mensch, in dem dieses Ziel vollkommen erreicht worden ist, muss in unserer geistlosen, verbildeten gottentfremdeten und wildbewegten Zeit wie ein Felsen im brandenden Meer erscheinen; wie ein Signal, zur Warnung und Rettung aufgepflanzt.

Offenbar leben wir in einer wichtigen Übergangsperiode der Menschheit. Eine neue, gewaltige Strömung geht über die Erde hin; eine Flut, ähnlich derjenigen, die in uralten Zeiten alles Bestehende wegschwemmte. Alte Bollwerke, die Jahrtausende lang die Grundpfeiler der Ordnung zu sein schienen, stürzen eins nach dem  andern, und der Geist unsrer Zeit rauscht über sie hinweg. Paläste und Dome, Altäre und Throne, die für die Ewigkeit erbaut zu sein schienen, wanken und brechen zusammen, weil ihre Fundamente unterwühlt sind. Begriffe, die durch eine Reihe von Jahrhunderten als unerschütterliche Wahrheiten dastanden, vor denen sich alles beugte, zerrinnen wie Nebelgestalten und niemand kann sie mehr aufrecht halten. Ohnmächtig erscheinen mehr und mehr alle Dämme, die dem neuen Geist entgegengesetzt werden. Vergeblich wendet man seine Blicke nach der Kirche, daß sie ihn aufhalte. Ihre Kraft ist gebrochen, ihr Arm erstarrt, sie naht ihrem Ende. Ängstlich sitzen an ihrem Lager die Wächter, mit Wiederbele-bungsversuchen beschäftigt.

Offenbar ist es auch, dass Gott selbst das Alte nicht mehr will; Er würde sonst dessen Zusammensturz verhindern. Liegt es aber im Plane Gottes, dass diese Flut alles Bestehende begrabe: sollte Er nicht eine Arche gebaut haben, damit Sein Same erhalten werde, der nicht untergehen darf? Und was soll an die Stelle des Alten, Verworfenen, treten? Sind die Gewalten, die den Umsturz bewirken, zugleich die Kräfte, die das Neue, von Gott gewollte, bauen? Ist das Gottes Reich, was die Menschen auf den Trümmern der alten Ordnung zu errichten streben? Hat Gott jene erste Flut kommen lassen, damit der Turm zu Babel erbaut werde? Worin besteht das Reich, das Gott beabsichtigt? Sind dessen Anfänge noch nirgends zu erblicken?

Wir alle sollen aufgerüttelt werden, damit wir in unser Inneres blicken. Hier ist der Ort, in dem  unser himmlischer Vater ein neues Werk beginnen und erschaffen möchte. Nur wo wahre Gottesmenschen gebildet sind, kann ein wahres Reich Gottes er- und bestehen.

Zu dieser inneren Umgestaltung des Menschen durch das alles neuschaffende, lebendige Wort Gottes sollen wir angeleitet werden. Zu dem wahren, lebendigen Tempel Gottes will es den Weg zeigen, in dem Gott angebetet wird im Geist und in der Wahrheit. Es gibt hie und da noch Seelen, die für die wesentliche Wahrheit empfänglich wären, wenn sie ihnen in ihrer Einfalt und Lauterkeit, entkleidet von dem Flitterwerk menschlicher Zutaten, entgegenträte. Solche Menschen werden  eine Speise des Lebens darin finden. Die Grundwahrheiten des lebendigen, inwendigen Christentums werden ihnen daraus entgegenleuchten; Zeugnisse der Wahrheit, bekräftigt durch tausendfältige Erfahrungen dessen, der sie ausgestellt hat; Worte voll Geist und Leben, nicht eitles Geklingel, wie die Worte der heutigen Schriftgelehrten. An solche Seelen wendet sich das neue Wort Gottes. Viele Menschen sind des kraft- und saftlosen, schulmäßig erlernten und handwerksmäßig  betriebenen Wortkrams müde. Sie verlangen nach lebendigen Zeugnissen christlicher Wahrheit, nach Zeugnissen, die aus der Quelle des inneren Lebens geschöpft sind und die Feuerprobe der Erfahrung bestanden haben. Sie lieben  die Wahrheit um der Wahrheit willen. Sie lassen sich die durch das Erkennen zum Üben  leiten und wollen durch das Üben im Erkennen fortschreiten; sie bekennen auch dann noch das als Wahrheit Erkannte mit Wort und Tat, wenn gleich ihr zeitlicher Vorteil, ihre Ehre, ihre Ruhe darüber zugrunde gehen, wenn Spott und Verachtung ihrer warten. Wer für die Wahrheit nicht leiden mag, dem gibt sie ihre innere Herrlichkeit nicht zu erkennen. Wer sich von ihr nicht will durchdringen und wesentlich umgestalten lassen, der wird stets vom Wesen zum Schein zurückgeschlagen werden.

 

Diese Worte sind dem Vorwort zur Biographie von Johann Jakob Wirz entnommen worden.

Zeugnisse von Joh. Jakob Wirz (Auszüge)