Den Naechsten lieben an sich betrachtet heißt nicht die Person, sondern das Gute lieben, das in der Person ist

417. Wer weiß nicht, daß der Mensch nicht Mensch ist durch die menschliche Gestalt und den menschlichen Leib, sondern durch die Weisheit seines Verstandes und die Güte seines Willens? Die höhere Beschaffenheit dieser macht, daß er mehr Mensch ist. Der Mensch ist, wenn er zur Welt kommt, tierischer als irgendein Tier, wird aber zum Menschen durch Unterweisungen, und Jesajah wie diese aufgenommen werden, bildet sich sein Gemüt, durch das und dem gemäß der Mensch Mensch ist. Es gibt Tiere, deren Gesichter dem menschlichen ähneln, allein sie erfreuen sich nicht der Fähigkeit zu verstehen und irgendwie aus dem Verständnis zu handeln, sondern handeln aus dem Instinkt, den ihr Naturtrieb aufregt. Der Unterschied ist, daß das Tier die Regungen seines Triebes hervortönen läßt, der Mensch hingegen dieselben, nachdem er sie in Gedanken gekleidet, ausspricht; dann auch darin, daß das Tier mit gesenktem Gesicht nieder zur Erde, der Mensch hingegen mit emporgerichtetem Angesicht nach allen Seiten hin auf zum Himmel blickt; und daraus kann man schließen, daß der Mensch insoweit Mensch ist, als er nach der gesunden Vernunft spricht, und sein Absehen auf sein Wohnen im Himmel hat, und daß er insoweit nicht Mensch ist, als er aus der verkehrten Vernunft spricht, und sein Absehen bloß auf sein Verweilen in der Welt hat; Menschen freilich sind auch diese, allein nicht der Wirklichkeit, sondern dem Vermögen nach; denn jeder Mensch besitzt das Vermögen, die Wahrheiten einzusehen und das Gute zu wollen; inwieweit er aber das Gute nicht tun und die Wahrheiten nicht einsehen will, insoweit kann er im Äußeren den Schein des Menschen annehmen, und dessen Affen spielen.

418. Daß das Gute der Nächste ist, hat seinen Grund darin, daß das Gute Sache des Willens, und der Wille das Sein des Menschenlebens ist. Das Wahre des Verstandes ist auch der Nächste, aber nur insoweit, als es aus dem Guten des Willens hervorgeht; denn das Gute des Willens gestaltet sich im Verstand und stellt sich in ihm sichtbar dar im Licht der Vernunft. Daß das Gute der Nächste ist, ergibt sich aus aller Erfahrung; wer liebt eine Person anders, als nach der Beschaffenheit ihres Willens und Verstandes, das heißt, nach dem Guten und Gerechten in ihr? Wie zum Beispiel: wer liebt einen König, einen Fürsten, einen Herzog, einen Statthalter, einen Ortsvorsteher, irgendeine obrigkeitliche Person, und irgendeinen Richter anders, als nach Maßgabe des Urteils, aus dem sie handeln und reden? Wer liebt einen Vorstand, einen Diener der Kirche, oder einen Geistlichen anders, als nach Maßgabe seiner wissenschaftlichen Bildung, nach der Reinheit seines Lebenswandels und nach seinem Eifer für der Seelen Heil? Wer liebt einen Feldherrn und irgendeinen Befehlshaber unter ihm anders, als nach seiner Tapferkeit und damit verbundenen Klugheit? Wer liebt einen Kaufmann anders, als nach seiner Redlichkeit? Wer liebt einen Arbeiter und Diener anders, als nach seiner Treue? Ja wer liebt einen Baum anders, als nach seiner Frucht, ein Grundstück anders als nach seiner Fruchtbarkeit, einen Stein anders, als nach seiner Kostbarkeit, und so weiter? Und, merkwürdigerweise, liebt nicht bloß der Tugendhafte das Gute und Gerechte im anderen, sondern auch der Lasterhafte, weil er bei diesem in keinerlei Furcht vor dem Verlust des guten Rufs, der Ehre und des Vermögens ist. Allein die Liebe zum Guten bei dem schlecht Denkenden ist nicht Nächstenliebe, denn der schlecht Denkende liebt den anderen nicht innerlich, außer inwieweit derselbe ihm dient. Hingegen das Gute im anderen lieben aus dem Guten in sich, ist echte Liebe zum Nächsten, denn alsdann küßt sich das Gute gegenseitig, und verbindet sich.

419. Ein Mensch, der das Gute liebt, weil es gut ist, und das Wahre, weil es wahr ist, liebt im vorzüglichen Sinn den Nächsten, und zwar darum, weil er den Herrn liebt, Der das Gute selbst und das Wahre selbst ist; nicht anderswoher stammt die Liebe des Guten und daraus des Wahren, und so des Nächsten; so bildet sich die Liebe zum Nächsten aus himmlischem Ursprung. Ob man sagt Nutzleistung, oder Gutes, ist einerlei; Nutzen schaffen heißt daher Gutes tun, und die Größe und Beschaffenheit der Nutzleistung, die im Guten ist, bestimmt auch die Größe und Beschaffenheit des Guten im Guten.