Die dreifache Rechtfertigung des Sünders vor Gott

November 1938

Frage: Wie verhällt es sich mit der uns durch Christum erworbenen Gerechtigkeit aus Gott, die laut Römer 1,17 aus Glauben kommt und in Glauben geht, und durch die der Mensch soll gerechtfertigt werden? Ist der vom Sündenschlafe aufgeweckte Mensch wirklich schon gerecht, wenn er an diese Gerechtigkeit glaubt, so daß er bei allen ihm noch anklebenden Sünden und täglich sich offenbarenden Gebrechen sich als einen Gerechten rühmen darf, und ist etwa diese Rechtfertigung, die er sich bei seiner ersten Aufweckung zueignet, schon als die Wiedergeburt und Erneuerung durch den Heiligen Geist anzusehen, wie dieses von manchen Seelen angenommen wird?

Antwort: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen (Joh.3,S). Diese Wiedergeburt aus Wasser und Geist ist erst die eigentliche und wesentliche Rechtfertigung, die aus Gott kommt und vor Gott gilt; sie entspringt aber aus dem ersten Grade der Rechtfertigung, so wie die Frucht aus der Blüte naturgemäß hervorgeht. Denn merke: Wie das ganze Wesen der Natur und die ganze Heils- und Gnadenordnung Gottes sich nach drei Prinzipien offenbart, die in dem dreieinigen Gott selbst, aus dem alles geflossen ist, ihren Grund haben, so sind auch in der Rechtfertigung des Sünders drei Grade oder Prinzipien zu unterscheiden.

Es gibt erstlich eine zugerechnete Rechtfertigung, die sich der reumütige Sünder im Glauben zueignet und die ihn zur Aufnahme in den göttlichen Gnadenbund befähigt, durch die er aber noch nicht als ein wirklich Gerecht-Erklärter vor Gott bestehen kann. Zweitens gibt es eine heiligende, zur Vollendung führende Rechtfertigung, die aus Glauben in Glauben übergeht, die im Gange der Wiedergeburt fortschreitet und zum dritten Grade hinleitet, welcher in der vereinigenden Rechtfertigung besteht.

Der erste Grad der Rechtfertigung geschieht in der Verheissung, wie geschrieben steht: Wer an den Sohn Gottes glaubt, wird ohne Verdienst gerecht, aus seiner Gnade, durch die Erlösung, die in Christo Jesu geschehen ist (Röm.3,24). Allein weil diese Rechtfertigung nur erst zueignungsweise, als im Werden im Menschen steht, so ist er dadurch noch nicht gerecht, denn nur der Geist des Glaubens und die aus ihm erwachsende Wiedergeburt rechtfertigt vor Gott.

Die zweite ist also erst die wesentliche Rechtfertigung vor Gott. Sie tritt ein, wenn der anfangende Glaube an Christum so weit zugenommen hat, dass er wirklich in Christum übergegangen ist, nämlich in das Leben, das Christus selbst im Menschen geworden ist durch die Wiedergeburt, vermittelst welcher das Gesetz Gottes in das Herz geschrieben wird, so daß der Mensch nun nicht mehr als ein ungerechtfertigter Hörer des Gesetzes, sondern als ein Täter desselben erfunden wird (Röm.2,13). Ein solcher Mensch gedenkt dann nicht mehr durch des Gesetzes Werke selig zu werden, sondern bringt Früchte in Glaubenswerken, die ihn zur Gemeinschaft in Christo befördern und steht in dem Weinstock als eine Rebe eingepflanzt, die Früchte zur Ehre Gottes hervorbringt.

In dem ersten Grade der Rechtfertigung wird dem an Jesum gläubig Gewordenen der Weg zum Paradiese eröffnet, auf dem er in Buße und Glauben fortschreiten muss. Allein erst im zweiten Grade der Rechtfertigung erhält der Gläubige den Eintritt in das Paradies und hat alsdann noch mehrere Stufen zu durchgehen, bis er den Zutritt in die Stadt Gottes erlangt. In dem dritten Grad steigt er auf den Berg Zion, wo er vom Schauen zur Vereinigung mit Gottes heiligem Lichtwesen geführt wird, was jedoch auf eine für den natürlichen, sinnlichen Menschen ganz verborgene Weise geschehen kann.

Jeder dieser drei Grade hat wieder gar manche und verschiedene Zwischenstufen, die der im Glauben fortschreitende Pilger mit unermüdlicher Treue nach und nach zurücklegen muss. Der erste Grad der Rechtfertigung, der in der Zueignung der dargebotenen Gerechtigkeit besteht, die Christus an unserer Statt erfüllt hat, und die dem reumütigen Sünder zuerkannt wird, führt zum zweiten Grad, der zweite im Gange der Wiedergeburt zum dritten, und in diesem letzteren Grade geht der Glaube nach und nach in Liebe über und der fortschreitende Pilger fängt endlich zu besitzen an, was er geglaubt hat.

Indessen hat dieser hohe Stand der Gnade, der die mancherlei Abwechslungen im Gange des dunkeln Glaubens nicht ausschließt, schon im zweiten Grade teilweise angefangen. Ebenso hat mancher, der noch im ersten Grade der Rechtfertigung steht, schon Vorgeschmack vom zweiten Grade, denn diese Grade sind nicht so streng voneinander getrennt, wie es nach den Ausdrücken unserer bildlichen und mangelhaften Sprache den Anschein haben könnte; sondern der ganze Gang eines dem himmlischen Vaterland zueilenden Pilgers ist im praktischen Leben des Geistes wie ein fortlaufender, sich einwärts ziehender Zirkel, der bis in den innersten Mittelpunkt hineinführt.

Dennoch ist es auf der andern Seite auch wahr, daß zwischen diesen einzelnen Graden eine große Kluft befestigt ist, die von dem Pilger, der sein vorgestecktes Ziel der Vereinigung mit Gott im Auge hat, durch gewisse Proben und Akte der Treue durchbrochen werden müssen, wobei es oft sehr leidensvoll zugeht, bis der natürliche Wille sich in den Tod ersenkt und in unbedingter Übergabe in den göttlichen Willen sich ins Grab gelegt hat. Denn es ist wohl zu bemerken, daß ein wahrer Sieg niemals durch unser Kämpfen, nach der Wirksamkeit unseres Willens geführt, hervorgebracht werden kann, sondern dieser Sieg jedesmal erst dann errungen wird, wenn unser Wille im Begehren einer Sache in Ohnmacht entsinkt und dem göttlichen Willen sich ergibt. Das heißt dann wirklich nach dem rechten Verstand des Worts, bloß und allein aus lauter Gnaden wollen gerechtfertigt und selig werden, und nicht aus eigenem Verdienst, durch unser Laufen und Rennen, durch unser Kämpfen und Ringen in eigener Wirksamkeit und manchen Verleugnungen, wobei man sich am Ende des Kampfes gewöhnlich wieder da befindet, von wo man auszugehen glaubte. Denn alles Kämpfen nützt nicht, so man nicht den Willen bricht.

Aus dem bisher Gesagten geht nun ganz deutlich hervor, daß nicht unser alter Mensch mit seinem verkehrten, fleischlichen Willen könne gerechtfertigt werden, und daß nicht er es ist, der aus lauter Gnaden selig zu werden hoffen darf, sondern daß nur der geistige Wille gerechtfertigt werden wird, der aus dem Tode des alten Menschen erstehen muß. Diese Wahrheit leuchtet auch aus dem tiefen Sinn des Römerbriefes ganz deutlich hervor, obgleich viele, die eine sehr große Liebe zum alten Menschen tragen, den Satz dieses Briefes, der sich allein auf die zugerechnete Rechtfertigung des Sünders vor Gott bezieht, daß nämlich der Sünder nur aus lauter Gnade selig werden könne, eigenmächtig aus dem Zusammenhang herausreißen, und ihn als ein Ruhekissen für ihren fleischlichen Willen zu benutzen suchen. Solche Seelen betrügen sich indessen sehr und werden, wenn sie bis an das Ende ihres Lebens in dieser Täuschung bleiben, beim Eintritt in die Geisterwelt, wo sich ihnen ihr wahrer Zustand unverhüllt vor Augen stellen wird, mit Schrecken erkennen müssen, daß jener erste Grad der Rechtfertigung, auf den sie sich, unbekümmert um den tiefern Grund derselben, ausschließlich verlassen haben, ohne Wirkung außer ihren Seelen stehen geblieben ist, und daß sie der wesentlichen Rechtfertigung durch die Wiedergeburt verfehlt haben, die aus der ersteren, welche ihnen auf Besserung zur Erlangung der Lebensgerechtigkeit zugesichert wurde, notwendig hätte erfolgen sollen.

Zwar ist der dritte Grad der Rechtfertigung des Sünders vor Gott wie der zweite, und der zweite wie der erste, einzig und allein ein Werk der Gnade; denn der Mensch kann nun seit dem Falle Adams, unseres Stammvaters, auf keine andere Weise mehr selig werden, als aus lauter Gnaden, weil Adam das göttliche Ebenbild, das ihm bei seiner Erschaffung als ein eingeborenes Gut gegeben wurde, verscherzt hat und dieser Verlust durch und in seinem Samen auf alle seine Nachkommen übergegangen ist. Daher kann nun der Nachkomme Adams nicht anders als aus lauter Gnaden durch den zweiten Adam, Christum, der zu einem lebendigmachenden Geist geworden ist, wieder selig werden (1.Kor.15,45). Es verhält sich damit wie mit einem Missetäter, der durch irgendeine böse Tat sein Leben verwirkt hat, dem aber durch die Huld seines Fürsten das Leben geschenkt wird.  So wie dieser nicht mehr auf Recht Anspruch machen kann, sondern sein Leben als ein geschenktes Gut anzusehen und sich dieser Gnade würdig zu betragen hat, damit er nicht von neuem in Ungnade falle; also muß auch jeder Mensch, der des Erbteils des ewigen Lebens durch Christum, den Fürsten des Lebens, wieder teilhaftig wird, dieses Leben einzig und allein als ein aus Gnaden geschenktes Gut betrachten.

Dessen ungeachtet aber bleibt es eine unumstößliche Wahrheit, dass der Mensch nicht auf Gnade hin seine Hände in den Schoß legen dürfe, sondern vielmehr mit der Gnade zu seinem Heil mitwirken müsse. Gott schenkt zwar auch hierzu das Wollen, wie Er das Vollbringen schenkt; nur muß der Mensch dieses Geschenk annehmen und desselben, wie eines Gewächses in einem Garten, durch Gebet und Seufzen pflegen. Wenn aber der Mensch den Zug zum Wollen, den Gott in seiner Seele erweckt, nicht annimmt, sondern demselben widerstrebt, so ist wenigstens hienieden kein Rat mehr für ihn.

Ich schliesse diese Abhandlung über die Rechtfertigung des Sünders vor Gott mit den dazu passenden Worten eines Dichters des vorigen Jahrhunderts, der sich über diese Wahrheit in einem seiner Lieder gar richtig also ausdrückt:

 

Die Heiligung erfordert Müh',

Du wirkst sie nicht, Gott wirket sie;

Du aber ringe stets nach ihr,

Als wäre sie ein Werk von dir.