DAS 5. KAPITEL.

5,1) Ich bin gekommen, meine Schwester, liebe Braut, in meinen Garten. Aber Er in seiner unendlichen Barmherzigkeit und Geduld bewilligt ihr noch einmal eine kurze Begegnung in ihrem Innern, eine Erweckung in der Nacht. Er hat zu ihr geredet, während der ersten Wache der Nacht, aber dann ist Er wieder verschwunden. Sie versteht nicht, dass Er sie nie verlassen hat, sondern ständig bei ihr ist. Aber plötzlich hört sie seine Stimme: Ich habe meine Myrrhe samt meinen Würzen abgebrochen; ich habe meinen Seim samt meinem Honig gegessen; ich habe meinen Wein samt meiner Milch getrunken. Sie hört Ihn, aber sie sieht Ihn nicht und vernimmt Ihn nicht. Und wenn seine Stimme verklungen ist, hört sie Ihn auch nicht mehr. Und dennoch ist in ihr etwas, was Ihn und seine Gegenwart in einer geheimnisvollen Weise vernimmt. Er ist da, Er atmet, Er isst und trinkt, aber in einer Tiefe in ihrem Inneren, wovon sie wenig oder nichts weiß. Sie kann nur in einer unbestimmten Weise vernehmen, dass Er da ist und von ihr all das wegnimmt, was ihr ein vernehmbarer Trost und eine Lieblichkeit gewesen ist. Und dennoch findet sie einen geheimnisvollen Trost und eine Erquickung hierin, welche von einem gewissen Hunger nach leiden kommen, und welche sagen: Gib mir noch mehr zu leiden. Aber es gibt keinen Trost für die Gefühle ihrer Seele. All sein Trost ist wie verloren für sie, denn die Sinne ihrer Seele sind verschlossen, gleichwie die der Emmaus-Jünger. Doch das macht nichts, denn in einer Tiefe, wo die Sinne nichts vernehmen, ist Er ihr nahe und schützt sie. Es ist so, dass die neuerweckten und kaum wachen Sinne ihres Geistes sich unsicher zu bewegen beginnen, ohne dass es ihrer Seele zum Bewusstsein kommt. - Dann muss sie durch eine Nacht nach der andern gehen. Sie ist durch solche vorher gegangen. Jede neue Entblößung ist eine neue Nacht. Die Entblößung, worin sie sich jetzt befindet, kann die dunkle Nacht der Seele genannt werden. - Esset, meine Lieben und trinket, meine Freunde, und werdet trunken. In dieser Nacht macht der Geist in ihr die erste Erfahrung davon, Abendmahl mit dem Bräutigam zu halten. Bei dem Abendmahl ist ihre Seele geschlossen für die Welt und die Geistlichkeit der Welt, verschlossen für sich selbst und für eigene Wege, verschlossen für Kenntnis, Gefühl und Trost in geistlichen Dingen.

5,2) Die Braut befindet sich immer noch in der dunklen Nacht der Seele, wo die Finsternis dichter und dichter wird, wo die Not  groß wird, und das Zukurzkommen zu einer vollen Zerbrochenheit wird; bis sie all ihrem Eigenen gegenüber gleichgültig wird und zu der Einfalt kommt, wo alles, was Gott tut, ein und dasselbe für sie wird. Sie hat jetzt viel davon durchgemacht. Ihre Seele ist entblößt worden von der Welt und ihrer Geistlichkeit, von sich selbst, ihrem eigenen Geistlichen und ihren eigenen geistlichen Wegen, von Kenntnis, Gefühl und Trost in geistlichen Dingen. Und sie ist zuerst müde geworden von allem und nachher gleichgültig und zum Schluss eingeschlafen. Es ist also eine Zeit vergangen zwischen diesem und den vorhergehenden Versen. Während dieser Zeit hat das Geistliche allen Geschmack für ihre Seele verloren. Sie ist gleichgültig geworden wie ein Heide, und in dieser Gleichgültigkeit hat sie äußerlich geschlafen. Jetzt erwacht sie und sagt: Ich lag und schlief, aber mein Herz wachte. Innerlich hat sie nicht schlafen können, während die Seele schlief. Mitten im Schlaf hat sie gespürt, dass ihr Herz (d.h. hier das in sie eingegossene Leben des Bräutigams, welches der Geist in ihr ist) wacht. Eine gewisse Unruhe des Herzens ist durch den Gleichgültigkeitsschlaf gedrungen, und am Ende hat diese Unruhe Oberhand bekommen, so dass sie aufwacht (aber nicht zu einem neuen Tag, sondern mitten in der Nacht), weil der Freund an ihre Tür klopft. Horch! mein Geliebter! Er klopft;'tue mir auf meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! Denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der Nacht! Er hat sich durch die Gleichgültigkeit ihrer Seele bis zu ihrem Geist hineingeklopft. Ihr Geist ist es, der Ihn hört, denn die Seele ist entblößt von allem bis zum Tode und hört nichts. Flehentlich bittet Er sie, Ihm zu öffnen, und dabei ruft Er alles in ihrem Geist, was von Ihm ist: Meine Schwester, meine Braut, meine Taube, meine Fromme! All dies, was zur vollen ehelichen Vereinigung gehört, ruft Er an, damit ihr Geist auferstehen möge, und den Platz der abgestorbenen Seele in Besitz nehme. Ihr Geist hat Verbindung mit ihm mitten durch den Tod der Seele und hat deswegen Gefühl für sein Werben, auch wenn Er an ihr Mitgefühl für Ihn appelliert, während Er draußen vor ihrer Tür steht in ihrer Nacht, mit dem Haupt voll von Tau und den Locken voll von den Tropfen der Nacht. Er durchleidet die Nacht mit ihr, aber ihr Geist ist nicht recht willig.

5,3) Sie sagt: Ich habe meinen Rock ausgezogen - wie soll ich ihn wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen; wie soll ich sie wieder verunreinigen? Sie entschuldigt sich. Sie fühlt, dass es schwierig ist, aufzustehen und sich anzuziehen. Sie hat ihre Kleider abgelegt, d.h. alles, worin ihre Seele gekleidet war, wie Wahrheiten, Tugenden, den Willen gut zu sein und Gutes zu tun, usw. Sollte sie jetzt wieder das alles anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen; d.h. ich habe alle geistlichen Wege öde gelassen, ich mag mit ihnen nichts zu tun haben; soll ich jetzt wieder mit ihnen anfangen? Nein, lass mich tot sein!

5,4) Aber mein Freund steckte seine Hand durchs Riegelloch und mein Innerstes erzitterte davor. Aber Er lässt sie nicht. Mit seiner ganzen Seele kämpft Er mit ihr, um sie an diesem Punkt hindurchzuführen, und, sie anflehend, reicht Er seine Hand durch das Riegelloch (die kleine Öffnung zu ihrem Geist, welche ihr Gefühl für Ihn ausmacht). Wenn sie seine Hand sieht, die starke Hand des Starken, so hilflos werbend ausgestreckt, dann wird ihr Herz vor Bewegung überwältigt. Sie wird ergriffen in einer Weise wie nie vorher in ihrem Leben. Etwas völlig Umwälzendes geschieht mit ihr.

5,5) Sie sagt: Da stand ich auf, dass ich meinem Freund auftäte; meine Hände troffen von Myrrhe und meine Finger von fließender Myrrhe an dem Riegel am Schloss. Ihr Geist hat gehört und ist aufgestanden. Dies war es, was jetzt geschehen sollte. Und als sie aufstand, troffen ihre Hände von Myrrhe, sein bitterliebliches Leidens- und Liebeswerk bezeichnend, das Er für sie vollbracht hat, und das sie jetzt in seinem Blut erlebt. Sie ist aufs neue darin gewaschen, und es ist im Grunde das, was sie zum Öffnen antreibt. Es befeuchtet (reinigt) auch den Griff des Riegels, so dass sie mit reiner Hand einen reinen Riegel zu dem Heiligtum ihres Geistes für Ihn öffnen kann.

5,6) Ich öffnete meinem Geliebten, aber mein Geliebter hatte sich umgewandt und war weitergegangen; ich war außer mir, während er redete. Dann öffnet sie mit gereinigten Händen ihren gereinigten Riegel, um Ihn einzulassen, aber es hilft nichts. Rein ist sie durch sein Blut, durch den Tod der Seele ist sie rein von der seelischen Befleckung, und der Geist sitzt auf dem Thron ihres Herzens, aber dennoch ist der Bräutigam weg, verschwunden. Genügt denn nicht die Heiligung ihres Geistes für Ihn, gibt es noch mehr durchzumachen? Es gibt nichts bei ihr, wäre es noch so rein und heilig, was Ihm genügt; sie hat noch etwas durchzumachen. Es ist so, dass nicht Er es ist, der jetzt in sie kommen soll, sondern sie ist es, welche in Ihn, in sein Land kommen soll. Ihre Seele geriet außer sich durch sein Wort. Das heißt hier, dass ihr neues Leben, Ihr Geist, außer sich gerät, sich gewaltsam hervordrängt und gleichsam alles in ihr überschwemmt, wenn sie seiner Worte gedenkt, welche ihr jetzt in einer neuen Bedeutung aufgehen. In dieser Überschwemmung kommt sie in eine neue Finsternis, in eine neue Nacht hinein. Sie befindet sich plötzlich in der dunklen Nacht des Geistes. Die Überschwemmung hat sie endlich aus sich herausgetrieben. Dies ist ein Riesenschritt auf dem Wege, aber den Schritt hat nicht sie gemacht; es ist etwas, das sie überwältigt hat, denn Er ist es, der erst durch sein Auftreten und seine Worte und später durch sein Verschwinden eben jetzt ist wie ein gewaltsamer Schlag für sie, denn Er hat sich zwar verborgen und ist vorher weg gewesen, aber dieses ist ein Verschwinden; dieses ist etwas, was ihre ganze Welt und ihre ganze Zukunft und ihren ganzen Himmel zerschlägt, all das, was in einer neuen Weise und so mächtig bei ihr aufwachte, als sie seine Hand sah und die Umwälzung bei ihr geschah. Jetzt steht sie draußen in der Nacht, einsamer als jemals, ein einsamer, kleiner Mensch unter einem furchtbaren, öden und leeren Himmelsgewölbe. Alles ist wie weggefegt von der Erde zuerst und vom Himmel nachher. Alles Licht, äußeres wie inneres, wird zur Finsternis und Verzweiflung. Aber sie vernimmt etwas in dieser dunklen Nacht, sie vernimmt einen gewaltigen, zermalmenden Himmelsraum über sich und um sich, aus welchem es gleichsam wie ein einziges Wort widerhallt: Nichts, nachgefolgt von einem Blitz, der von einem Mittelpunkt niederwärts und aufwärts und zu den Seiten aufflammt, gleichwie ein Kreuz das ganze Himmelsgewölbe und die ganze Erde erfüllt, und alles verzehrt. Es ist wie am Tag des Gerichts. Und sie, sie ist wie vernichtet auf einer vernichteten Erde. Das Feuer des Herrn ist gekommen und hat alles zu Asche verbrannt, was bei ihr brennbar ist. Alles ist tot, alles ist aus und vorbei. Die große Zerstörung und Verödung herrscht. Aber dies ist die Nacht der Allmacht des Herrn. In der Nacht geschehen unerhörte Dinge, himmlische Wunder. Im Grunde genommen ist sie nicht erschreckend, sondern mild, weich, erwärmend, eine Umarmung des Herrn, barmherziger als einer Mutter Busen. Gleichwie Paulus auf dem Weg nach Damaskus von der Herrlichkeit des Herrn niedergeschlagen wurde, und danach wie ein Toter drei Tage lang war, und nichts sehen konnte (Apg.9,3-19), so ist sie jetzt wie ein Toter. Dieser Zustand dauert vielleicht eine Zeit, aber in der richtigen Stunde erweckt der Herr sie durch seine Allmacht, und dann fängt sie an in einem neuen Leben, in einem neuen Land aufzuleben. Sie fängt dann an, immer mehr und mehr zu verstehen, dass alles ganz neu ist. Aber sie findet nicht den Bräutigam in all diesem. Das Neue, worin sie ist, gibt es mitten in der alten Welt, ist gleichwie eine Welt in der Welt; aber verschlafen wie sie ist, ist es schwer für sie, etwas klar zu unterscheiden. Ich suchte ihn und fand ihn nicht; ich rief ihn und er antwortete mir nicht. Sie sucht und sucht, nicht wie vorher in sich selbst, sondern draußen in seinem Land , aber sie findet Ihn nicht. Sie ruft, und alle Gebete verklingen unerhört, scheinbar. Die Nacht ist fortgeschritten, aber noch nicht vorüber.

5,7) Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen; sie schlugen mich, verwundeten mich; die Wächter der Mauer nahmen mir meinen Schleier. Die Vertreter des offiziellen Christentums, die Wächter auf den Mauern, welche die Hut der Seele handhaben und über sie wachen, können ihr nicht helfen. Mitten in dieser Welt ist sie wie ein Gespenst von einer andern Welt, und die Wächter sehen sie als eine Gefahr an, welche bekämpft werden muss. Es gibt nichts, was so gefährlich für sie ist wie ein Mensch, welcher eine Offenbarung davon ist, dass es die himmlische Welt mitten in der Welt gibt. Sie schlagen und verwunden sie und rücken ihr den Schleier weg. Am liebstenwürden sie, wenn sie es wagten, sie aus der Welt hinwegtun, sie irgendwo hinbringen, wo sie unschädlich für andere wäre. Sie sehen sie als hochmütig und als wahnsinnig an, da sie von Dingen redet, welche nicht dieser Welt angehören. Sie redet von dem Bräutigam als von einer lebendigen Wirklichkeit, wovon sie nur durch Wort und Hörensagen wissen.

5,8) Aber sie ist unter allem und allen gebeugt. Jetzt wendet sie sich an die Töchter Jerusalems (die Gläubigen), welche ihr begegnen, und bittet um ihre Fürbitte: Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet - was sollt ihr im berichten? dass ich krank bin vor Liebe! Sie bittet nicht darum, dass sie um etwas für sie bitten sollen, sondern nur darum, dass sie Ihm sagen sollen, dass ihr Geist krank ist vor Liebe. Es gibt nichts anderes Ihm zu sagen, nichts zu erbitten für sie, denn nur Ihn. Alles andere ist nichts. Es gibt für sie nichts anderes im Himmel noch auf Erden als Ihn. Er erfüllt ja den ganzen Himmel und die ganze Erde, aber noch ist es Nacht, so dass sie Ihn nicht sehen kann. Sie kann nur ahnen, dass Er um sie ist zu allen Zeiten.

5,9) Aber die Töchter Jerusalems können weder sie noch ihre Liebe verstehen. Sie finden ihren Zustand bedenklich und wollen sie deswegen prüfen. Ihr Standpunkt ist ja ein ganz anderer und nach ihrem Denken höher. Sie sehen mit herablassendem Mitleid auf sie, welche kaum ein Mensch ist, so zerbrochen, so schwach, so elend. Sie meinen, dass sie wahrscheinlich zu hoch fliegen wollte, und deshalb niedergefallen ist und sich unheilbar verdorben hat. Die, welche nach Hörensagen wandeln, scheinen sicherer und auf einer höheren Ebene als sie, die Erniedrigte und Vernichtigte, zu wandeln, und sie kann nicht mehr denken, dass sie höher steht oder weiter gekommen ist, als irgendein anderer. Sie lauscht ihnen und ihrem Prüfen zu, als wären sie weit fortgeschritten. Sie fragen sie: Was ist dein Geliebter vor einem andern Geliebten, du Schönste unter den Frauen? Was ist dein Geliebter vor einem andern Geliebten, dass du uns also beschwörst? Sie meinen, dass sie in Bezug auf ihre leiblichen, intellektuellen und moralischen Voraussetzungen, welche geeignet sind, sie zu der Schönsten unter den Frauen zu machen, sich selbst weggeworfen und sich erniedrigt hat, um einiger unwirklichen Ideen willen. Sie meinen, dass sie selbst ein gewisses Maß in ihren Gefühlen für den Freund besitzen. Was ist dein Freund vor einem andern Freund, fragen sie. Du sollst nicht so ganz in dem Geistlichen und Himmlischen aufgehen, meinen sie, denn das ist gefährlich. Du sollst deinen himmlischen Freund nicht so lieben, dass du deine irdische Zukunft und all das, was dich in der Welt zur Bedeutung machen kann, verlierst. Du wirst sehen, dass es für dich sehr wohl angeht, sowohl den Freund Jesus Christus zu lieben, als den Freund "die Welt", als den Freund "das Ich", als den Freund "Menschenehre".

5,10) Aber sie redet davon, dass sie den Freund, den unvergleichlichen, geschaut hat: Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet vor Zehntausenden. Ihre neugeborenen, himmlischen Sinne haben einen Schimmer von seiner Herrlichkeit gesehen und vernommen. Sie hat Ihn strahlend weiß und rot gesehen. Das Weiße bezeichnet sein Auferstehungsleben, und das Rote sein Blut. Es ist das Blut, welches die Pforte zu seinem Auferstehungsleben und damit auch zu ihrem ist, da Er sie durch dieses Blut erworben hat, und sich mit ihr durch dieses eins gemacht hat. Aber jetzt fängt sie an, dieses in einer neuen Weise zu sehen und kommt auch in einer neuen Weise zu seinem Genuss. Vorher war es ihr seelisch-geistlicher, jetzt ist es ihr geistlichhimmlischer Mensch, der es sieht und genießt. Sie sieht Ihn herrlich vor Zehntausenden, d.h. herrlicher als alles Herrliche und vor allen Herrlichen, die es gibt. Die ganze Welt und der ganze Himmel wird zu nichts vor seiner Herrlichkeit. Alle die Herrlichkeit der Welt und des Himmels entlehnen ihr Licht von der Seinigen. Er ist die Herrlichkeit - die Sonne.

5,11) Sein Haupt ist gediegenes, feines Gold; seine Locken sind herabwallend, schwarz wie der Rabe. Strahlend, mit einem Glanz von feinstem Gold, ist sein Haupt. Gold bezeichnet hier göttliche Güte und Liebe in ihrem allerhöchsten Strahlenglanz und Herrlichkeit. Wie kann jemand irgendetwas von Ihm sehen, ohne überwältigt zu Boden zu sinken und in Ohnmacht anzubeten! Seine Locken sind wie Palmbaumbüschel, d.h. Er ist stattlicher als alle andern Bäume, und nur gegen den Hintergrund des Himmels sieht man seine Locken, schwarz wie der Rabe, was bedeutet, dass Er all die schwarze Sünde der ganzen Welt getragen hat und trägt, und deshalb dieses Zeichen tragen muss, bis Er alle seine Feinde zu seinen Füssen gelegt hat. Dann wird sein Haar weiß wie weiße Wolle, wie Schnee werden (Offb.1, 14).

5,12) Seine Augen wie Tauben an Wasserbächen, badend in Milch, sitzend in ihrer Einfassung. Tauben bezeichnen hier die göttliche Einfalt, welche sich nur gegen eines richtet, alle die vollkommen zu heilen, die zu Ihm kommen. Seine Augen gleichen solchen unschuldsvollen, bittenden, einfältigen Tauben an Wasserbächen (der Schimmer der Tränen), bezaubernd und herzerwärmend in ihrer Milde, wo sie gleichwie in Milch, die bis zum Rande geht, baden. Aber sie sollen wie Feuerflammen sein (Offb.1,14), wenn Er zum Gericht kommt, sei es dass es dem einzelnen Menschen hier in der Zeit, oder der ganzen Welt beim äußersten Gericht gilt.

5,13) Seine Wangen, wie Beete von Würzkraut, Anhöhen von duftenden Pflanzen; seine Lippen Lilien, triefend von fließender Myrrhe. Die Wangen bezeichnen, sein Äußeres, das was Er gegen die Menschen wendet, und das, womit Er das empfängt, was von ihnen kommt, nämlich Verschmähung und Leiden, Liebe und Lob. Was sie sonst auch empfangen, so sind sie in ihrer unausschöpflichen Geduld, wie wohlriechende Blumenwiesen. Sie duften wie .solche, und wie eine Anböhe mit duftenden Gewürzen, was ihnen auch von den Menschenkinder widerfahren mag, sogar wenn Er sie streng züchtigen muss. - Seine Lippen, welche sein Wort aussprechen, sind rote Lilien (die schönsten unter allen Lilien), weil sein Wort, welches von seinem vergossenen Blut kommt, lieblichen Tod und liebliches Auferstehungsleben denen gibt, welche es annehmen und bewahren. - Dass sie von Myrrhe triefen, bezeichnet, dass von ihnen seine ganze bitterliebliche Liebe fließt, so wie sie auf dem Kreuz denen offenbart worden ist, welche sie annehmen.

5,14) Seine Hände goldene Rollen mit Türkisen besetzt, sein leib ein Kunstwerk von Elfenbein, bedeckt mit Saphiren. Die Hände bezeichnen hier Macht und Milde.. Die rechte Hand ist die Macht, womit Er seinen Willen durchführt womit Er den Menschen entblößt und über ihn sein Gericht hält, d.h. von ihm alle seine Feinde durch Gericht entfernt, welche sich hindernd in den Weg stellen für seine vollkommene Unterwerfung unter Ihn. Die linke Hand ist die Milde, womit Er die Seele umarmt, leitet und trägt den ganzen Weg bis zum Ziel. Diese Hände sind Rollen von Gold, d.h. von der vollkommenen göttlichen Güte und Liebe; sei es, dass sie seine Gerichte ausführen, oder die Seele mild trösten und tragen. - Türkis ist ein durchsichtiger, grünlicher Edelstein und bezeichnet hier das für die Erde Durchsichtige, also das, wodurch man sehen kann, wie seine göttliche Liebe und Güte auf Erden handelt. - Leib bezeichnet seinen irdischen Menschen, durch welchen Er den Menschenkindern ein Bruder ist und ihre Verhältnisse teilen und ihre Not und Freude verstehen und tragen kann. Hier ist die Scheidewand zwischen Erde und Himmel, Mensch und Gott, abgebrochen. - Dass sein Leib von Elfenbein geformt ist, bedeutet, dass er durch und durch von festem, reinem und schönem Material ist; dass seine Menschlichkeit durch und durch göttlich ist, und seine Göttlichkeit menschlich ist. Er ist bedeckt mit Saphiren. Der Saphir ist ein Edelstein von der blauen Farbe des Himmels und bezeichnet hier das, was ganz von dem Throne Gottes den Himmel widerspiegelt. So widerspiegelt seine göttliche Menschlichkeit den ganzen Himmel von dem äußersten Ende bis zu Gottes Thron im Innersten, und ist also ein irdischer Spiegel für das Himmlische.

5,15) Seine Schenkel sind Säulen von weißem Marmor, gegründet auf Untersätze von feinem Golde; seine Gestalt wie der Libanon, auserlesen wie die Zedern. Säulen bezeichnen die Tragkraft und bedeuten hier, dass Er die ganze Schöpfung und alle Menschen, sowohl böse als gute, trägt. Alles und alle haben ihr Leben von Ihm. - Dass sie von dem weißesten Marmor sind, bedeutet, dass sie von dem reinsten und unvergänglichsten und schönsten Material sind, dass sie fest sind wie der Felsen, dass sie nicht wanken unter ihrer Last, dass ihre Schönheit etwas Übermächtiges  ist. - Dass sie auf Untersätzen von feinstem Gold gegründet sind, bedeutet, dass sie ruhen auf der reinsten, göttlichen Güte und Liebe, welche also der Grundwall ist für das, was sie tragen. Ihn zu sehen ist wie Libanon zu sehen, d.h. den schönsten und höchsten unter den Bergen des verheißenen Landes, gleichwie Zedern unter ihren Bäumen, weshalb Er stattlich wie eine Zeder beschrieben wird.

5,16) Und zum Schluss sagt die Braut: Sein Gaumen ist lauter Süßigkeit, und alles an ihm ist lieblich. Das ist mein Geliebter und das mein Freund, ihr Töchter Jerusalems. Die Worte reichen nicht, wenn sie Ihn, den Unvergleichlichen, beschreiben soll. Sie appelliert an die Zuhörerinnen selbst, dass sie die Süßigkeit seines Mundes und die Lieblichkeit seines Wesens kennen lernen mögen. Eitel Süßigkeit ist sein Mund, und sein ganzes Wesen ist Lieblichkeit; d.h. Er hat immer, was Er auch sagt, nur Worte der Segnung und der Barmherzigkeit auf seinen Lippen. Aus seinem ganzen Wesen strömt Lieblichkeit zu jedem Einzelnen, der Ihm begegnet. Er ist ein ganzes Meer von einer lieblichen, anziehenden Macht; und keiner, der in seine Nähe kommt, kann Ihm auf die Dauer widerstehen. - Das ist mein Geliebter und das mein Freund, ihr Töchter Jerusalems! Ihr, die ihr Ihn im Glauben kennt, ihr solltet Ihm noch näher und näher kommen, bis dass eure Augen geöffnet werden, bis dass ihr sehend werdet.

5,17) Die Töchter Jerusalems haben ihr mit Verwunderung und Bedenken zugehört. Sie fühlen sich nicht überzeugt, sondern bald angezogen, bald abgestoßen. Aber sie haben eine Ahnung davon bekommen, dass etwas Großes darin liegen muss, sich ganz von dem einen Freund ergreifen zu lassen. Sie sagen: Wohin ist dein Geliebter gegangen, du Schönste unter den Frauen? Wohin hat dein Geliebter sich gewendet? Und wir wollen ihn mit dir suchen. Sie meinen, dass wenn Er so ist, wie sie Ihn darstellt, Er reichen Ersatz für alle anderen Freunde geben könne. Sie wollen Ihn auch sehen wie sie Ihn sieht. Sie wollen ihr helfen Ihn zu suchen, mit einer knospenden Hoffnung in ihren Herzen. So ist denn die Braut, ohne es selbst zu wissen, eine Botschafterin für sie geworden. Wenn die Menschen anfangen jemand über den Herrn zu fragen, dann haben sie schon etwas von Ihm gesehen bei solchen Seelen, und dann ist die rechte Missionstätigkeit, die rechte Verkündigung des Wortes Gottes vorhanden.