DAS 6. KAPITEL.
6,1) Während die Braut mit den Töchtern Jerusalems geredet hat, ist die Nacht von ihrem Geist gewichen und die Morgenröte ist erschienen. Sie sieht jetzt klar mit den Augen des Geistes, den Augen, welche nicht nur die irdische Umgebung, sondern auch die himmlische schauen. Und wenn sie jetzt die Augen erhebt, sieht sie Ihn in seinem Land, in seiner himmlischen Umgebung; d.h. sie sieht durch die Dinge der alten Schöpfung in die der neuen Schöpfung hinein. Alles wird klar wie Kristall für ihr Gesicht, so dass sie quer durch alles sehen kann, ja sogar mitten durch Stock und Stein, durch Dinge dieser Welt; und das Kristallwesen in allem schauend, sieht sie bis hin zum Throne Gottes im Himmel. Und dann sagt sie in der unaussprechlichen Freude eines Blinden, wenn er das Gesicht wieder bekommt: Mein Geliebter ist in seinen Garten hinabgegangen, zu den Würzkrautbeeten, um in dem Garten zu weiden und Lilien zu pflücken. Nun fühlt sie, dass sie aufgewacht ist von dem Tod des Geistes, aufgewacht zum Leben in seinem Land, zu dem Auferstehungsleben, und dass die Kräfte des Lebens sie mehr und mehr in Besitz nehmen. Es ist eine wunderbare Quelle, welche in ihr aufsprudelt, denn sie kommt nicht von ihrem Innern, wie vorher in der Welt, sondern hat ihren Ursprung in Ihm. Sie kann es nicht beschreiben, nur erleben, und all dies zieht sie mit einer unwiderstehlichen Macht tiefer in sein Land hinein. Sie sieht Ihn in seinem Lustgarten, wo Er seine Herde (d.h. alle die Ihm angehören) weidet, und wo Er Lilien pflückt, d.h. die reinen, himmlischen Schönheiten, welche Er denen gibt, die seiner Herde angehören. Und dann, mit einem Mal, befindet sie sich bei ihm, und nicht nur das, sie sieht, dass sie auf einmal selbst der Lustgarten ist, wo Er seine Herde weidet und für sie Lilien pflückt. Er hat sie zu dem gemacht, wovon Er geredet hat (Kap.4,12-15). Jetzt, wo sie alles Eigene in den Tod verloren hat, ist sie eine Mutter für seine Herde geworden, ein Lustgarten, worin Er die Seinigen speist und schmückt. Eben in ihrem Nichtssein ist sie die Königin seines Landes geworden, und nun ist sie mit offenen Augen dort bei Ihm. Sie ist fertig für die Vermählung; und das, wozu sie jetzt gekommen ist, ist höher als alles, wovon sie je geträumt hat. Aber es ist wohl zu merken: Sie sieht sich als seinen Lustgarten in einer solchen Weise, dass es ist, als ob sie es nicht wäre, sondern Er es wäre. Er und sie sind eins in Geist, Seele und Leib, alles in himmlischer Bedeutung. Dies kann mit der Vernunft nicht erfasst noch mit Worten beschrieben werden. Es sieht für die Vernunft unbegreiflich und töricht aus.
6,2) Dann sieht sie, dass sie eben in dem Auferstehungsleib, dem himmlischen Leib (dieser Leib ist etwas ganz anderes als ihr irdischer Leib (2.Kor.5, 1-3), den sie jetzt hat. vor der Vermählung steht. Diese findet in Wirklichkeit in diesem Moment statt. Die eigentliche Vermählung entzieht sich aller Blicke der Außenstehenden. Nur die, welche himmlisches Gesicht haben, können in sie einblicken.
Die vermählte Braut sagt jetzt: Ich bin meines Geliebten, und mein Geliebter ist mein, der unter den Lilien weidet. Es ist dies eine ganz andere Weise, in der sie es sagt, als das vorige Mal. Das vorige Mal war es in der alten Schöpfung, nun ist es in der neuen, in seinem Land, in dem himmlischen. Das vorige Mal war es in der Berufung und in der Hoffnung, dass sie es sagte. jetzt ist es in der Verwirklichung.
Ich bin meines Geliebten, ist hier ein und dasselbe wie: Mein Geliebter Ist mein. Sie gehört nicht mehr sich selbst, und es ist dieses Sichnichtselbstgehören, welches sagen kann: Mein Geliebter Ist mein. Es ist nur das, was sie in Ihm ist, welches Ihn besitzen kann. Aber alle Worte wanken und kommen zu kurz, wenn sie aussprechen sollte, was dies in sich trägt.
Sie ist sein, und Er gehört ihr, da, wo Er seine Herde unter den Lilien weidet; eben da, wo Er ist, da und an keiner andern Stelle, ist sie die Seinige. Es ist jetzt nichts mehr übrig von. ihrer selbstsüchtigen Liebe zu Ihm. Alles solches ist zunichte geworden in der Entblößung und im Tod. Sie begehrt nun nicht mehr seine Gegenwart und Liebe bei sich selbst zu genießen, sondern lässt Ihn kommen und gehen wie Er will. Aber sie wird zu Ihm gezogen, gesogen mit einer unwiderstehlichen Macht dahin, wo Er ist, und ist also mit Ihm, und darf seine Liebe genießen, wo Er ist.
6,3} Mitten in dieser Welt lebt sie jetzt mit ihrem Bräutigam-Mann in dem Himmlischen. Alles, worauf ihr Auge fällt, sogar das Geringste und Unbedeutendste auf Erden, wird himmlisch. Alles worauf sie schaut, ist Sein. Aber dies bedeutet nicht, dass sie in der Folge frei werden soll vom Leiden. Das wird sie nicht, aber sowohl das Leiden als alles andere bekommt einen andern Inhalt als vorhin. Jetzt wird ihr Leiden ein Schatz und eine Freude, da es das Leiden für Menschen in der Welt ist, welches Er noch leiden muss für seine Glieder (Kol.1 ,24). Das Leiden wird für sie himmlisch. Das und alles andere, was ihr in der Welt begegnet, ist Sein und deswegen eine unvergängliche Freude für sie. Überall, wo sie auf sich selbst schaut, sieht sie nichts, nichts, nichts; denn sie ist nichts außer Ihm. Aber überall, wo sie auf Ihn schaut, sieht sie sich selbst und alles, alles, alles; denn sie hat sich selbst und alles in Ihm. -
Der Bräutigam sagt zu ihr: Du bist schön, meine Freundin, wie Thirza, lieblich wie Jerusalem, furchtbar wie Kriegsscharen unter Panier. Er sieht auf sie. Jetzt, wo sie von allem Eigenen befreit worden ist, ist sie schön, lieblich, überwältigend in einer verwirklichten Weise. Vorher war sie es nur in einer vorbildenden Weise. Thirza bedeutet "Gefallen", und war eine wegen ihrer Schönheit weit berühmte Stadt. Schön wie Thirza bezeichnet also das denkbar Schönste. Lieblich wie Jerusalem bedeutet, dass sie lieblich ist wie das Herz des verheißenen Landes und der ganzen Menschheit. Überwältigend wie eine Kriegsschar heißt, dass ihre Macht über Ihn unbegrenzt ist. Das Wunderbare ist, dass sie mächtiger ist als Er. Sie überwältigt ihn mit allem, was sie eben als Nichts ist. Als nichts besitzend, nichts könnend, nichts wollend, nichts tuend, ist sie mächtiger als Gott selbst; denn dann muss Er ihr mit allem dienen. Welch unerhörte Macht und welcher Reichtum liegt doch darin, nichts zu sein und alles verloren zu haben! Die Seligkeit dieses Verlorenseins übertrifft alles, was ein Herz begehren kann.
6,4)
Wende deine Augen von mir ab, denn sie überwältigen mich. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen des Gilead lagern. Wenn Er sie jetzt sieht, seitdem all das Vorgebildete in ihr verwirklicht worden ist, und sie also ganz Sein ist, ist es, als ob Er geblendet wird von dem Strahlenglanz ihrer Augen. Der Erfolg des Werkes, das Er in ihr ausgeführt hat, ist sogar schöner und mächtiger als Er erwartet hatte. Ihre Augen haben ihn zu ihrem Sklaven gemacht. Wende deine Augen weg, ich kann ihre Macht nicht aushalten! Es sind Seine Augen, welche mit ihrer ganzen Macht in den ihrigen sind und durch sie blicken. Es sind ihre Augen, welche in den Seinigen sind und durch sie blicken. Sie ist ganz in Ihn und Er in sie eingesogen. Das ist diese große Einheit, worin sie leben als Mann und Weib. Sie ist in Ihm und sieht sich selbst mit Seinen Augen, und Er ist in ihr und sieht sich selbst mit ihren Augen. Und der ganze Himmel schaut darauf und hält den Odem an vor Freude bei diesem Gesicht.Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen des Gilead lagern. (Siehe für diesen und die beiden folgenden Verse gilt folgender Hinweis: Bei Kap.4, 1-3 war es vorgebildet, hier verwirklicht; da war es Prophezeiung, hier Erfüllung; da war es Samen, hier sprießendes Gewächs). Ihr Haar bezeichnet ihre geistliche Keuschheit. Es ist ein Schleier, der ihr verborgenes leben vor den Blicken der Unbefugten verbirgt, und ist als solches eine Macht. Es bewahrt sie für Ihn allein, indem es für Ihn nicht verbirgt, sondern ihre innere Herrlichkeit offenbart.
6,5) Deine Zähne sind wie eine Herde Mutterschafe, die aus der Schwemme heraufkommen, welche allzumal Zwillinge gebären und keines unter ihnen ist unfruchtbar. Die Zähne, welche das Betrachten des Wortes bezeichnen (das Essen und Trinken des Fleisches und Blutes des Bräutigams) werden hier nicht nur für das Betrachten und Essen des Glaubens, sondern für das Betrachten der geistlichen Wirklichkeiten und für das Essen des himmlischen Mannas benutzt. Es ist ein wesentlicher Unterschied zwischen früher und jetzt bei ihr. Jetzt kann sie in einer ganz anderen Weise, da sie selbst von seinem himmlischen Leib isst, das geistliche Leben anderer Menschen ernähren. Und sein Herz wallt vor Freude, wenn Er dies sieht.
6,6) Wie ein Schnittstück einer Granate ist deine Schläfe hinter deinem Schleier. Die Wangen sind ja das, was das von außen Kommende lieblich und leicht annimmt. In dem vollkommenen, dem apostolischen Zustand, worin sie sich befindet, ist sie (wie vorhin gesagt) gewiss nicht von Mühseligkeiten und Leiden befreit, gleichwie sie auch nicht ausgeschlossen ist von Lieblichkeiten und Erquickungen in der Welt. Vielleicht bekommt sie von beiden Sorten mehr, als sie in ihrem alten Leben empfing. Sie muss für andere leiden und andere tragen. Sie muss das Erniedrigungsleben des Himmels auf Erden leben. Sie wird verachtet und verfolgt um dieses Lebens willen, so wie Er es wurde während seiner Erdenwanderung. Sie kann als Folge davon Not und Entsagung schmecken, aber alles solches macht sie noch schöner, macht sie zu einem noch mehr blitzenden Edelstein für Ihn und den Himmel. Deswegen ist ihre Wange wie ein Schnittstück einer Granate, d.h. offen, weit offen, all das empfangend, was über sie kommt. Auch kann sie allem und allen geben, welche sich eignen zu empfangen, was sie zu geben hat. Aber so ist sie nur allein durch den Bräutigam, denn es ist eigentlich nur für Ihn, dass sie offen empfangend und gebend ist. Alles was zu ihr kommt, kommt von Ihm, und alles was sie gibt, gibt sie Ihm allein. Das Äußere kommt von der Welt und den Menschen, geht aber durch Ihn, bevor es sie erreichen kann. Und das, was sie von seinen Gaben gibt, kann sie nicht direkt geben, es muss durch Ihn gehen, bevor es zu andern kommt. Deswegen ist sie ein verschlossener Brunnen, eine versiegelte Quelle für alle außer für Ihn. Als verschlossen und versiegelt erscheint sie den andern gleichwie ein gewöhnlicher, kleiner, grauer Mensch. Alles was leuchten oder bezaubern kann, ist mehr oder weniger zurückgezogen bei ihr. Ihre himmlische Schönheit und Macht sind nur für Ihn und den Himmel, und für die in der Welt, welche himmlisches Gesicht haben. Abscheulich für die Welt, verspottet von der Welt, ist sie herrlich für den Himmel.
6,7-8) Der Bräutigam vergleicht sie mit andern. Er sagt:
Sechzig sind der Königinnen und achtzig der Kebsweiber und Jungfrauen ohne Zahl. Eine ist meine Taube und meine Vollkommene; sie ist die einzige ihrer Mutter, die Auserkorene ihrer Gebärerin. Töchter sahen sie und priesen sie glücklich, Königinnen und Kebsweiber, und sie rühmten sie. Die Königinnen, Kebsweiber, Töchter und Jungfrauen bezeichnen Fromme in verschiedenen Graden, welche in dem Geistlichen in der Welt leuchten. Solche gibt es viele. Sie sind erfolgreich in ihrer geistlichen Wirksamkeit. Sie sind besonders fromm und scheinen weit gekommen zu sein in Gnadengaben und Licht, und sind es auch. Sie können vielem entsagen und viel arbeiten und ein strenges Leben führen. Sie sind demütig und stehen hoch in der Tugend. Ihre Heiligkeit und ihre außerordentlichen Gnadengaben leuchten weit umher. Alles bei ihnen hebt ihre Person als wunderbar und nachfolgenswert hervor. Einige von ihnen können das Ideal ihrer Zeit werden und vieles für die Welt ausrichten. All dies ist sehr gut, und Gott wirkt auch durch sie. Aber alle zusammen sind sie nichts im Vergleich mit ihr, mit seiner Taube, seiner Frommen, seiner Einzigen. Sie sind den aufwärtsgehenden Weg gewandert und haben deswegen den Lohn empfangen, der darin besteht, mit ihrer Geistlichkeit in der Welt zu leuchten. Sie haben Gottes Gaben begehrt und haben sie bekommen. Aber die Braut hat nicht seine Gaben begehrt, sondern Ihn selbst. Deshalb hat Er von ihr alles weggenommen, sie unbekannt in der Welt gemacht, sie von allem entblößt, sogar auch von all ihrem Geistlichen, bis sie allen Grund unter den Füssen in sich selbst und in der Welt verloren hat, und in Ihn hineingezogen worden ist. Aber dann hat sie auch ihren Lohn, den ewigen Lohn, der Er selbst ist, bekommen. Was macht es ihr dann, dass sie für die Welt verschwunden ist? Sie ist ja zu Ihm entrückt, eingesogen in das Himmlische. - Seine Einzige ist sie, seine Taube (eine einfältige, welche ihr Auge auf Einen und Eines gerichtet hat), seine Fromme (die andern sind sowohl die Frommen der Welt als Seine Frommen). Er hat sie den abwärts gehenden Weg, den Erniedrigungsweg geführt und geleitet, der Sein eigener irdischer Weg war; und deswegen ist sie jetzt Seine Einzige, Sein Glück, Sein unverlierbares und einziges Glück geworden. Soviel bedeutet für Ihn jede einzelne Seele, welche Er durch den Tod zum Himmelsleben geführt hat. Aber dies ist sie, damit Er durch sie sogar die andern auf den Brautweg, den abwärts gehenden Weg, ziehen kann. Und dies fühlen sie, halb bewusst, halb unbewusst, und deshalb erhöhen sie ihr Lob gegen alle ihre Vernunft und gegen alle Natur.6,9)
Der Bräutigam sieht weg von den andern und sieht jetzt wiederum nur auf sie: Wer ist sie, die da hervorglänzt wie die Morgenröte, schön wie der Mond, rein wie die Sonne, furchtbar wie Kriegsscharen unter Panier? Er sieht sie hervorschreiten aus dem sie umgebenden Nichts (d.h. aus der für sie zunichte gewordenen Welt, sowohl die weltliche als die geistliche), wie eine Morgenröte, um in ihrem inneren Nichts höher und höher zu steigen, bis zum vollen Mittag. Das bedeutet, dass sie weiter und weiter in sein Land hineinkommt, weil ihr Nichts klarer und klarer wird. Er sieht auf sie in sprachloser Bewunderung. Schön wie der Mond, bedeutet hier, dass die Braut ihr Licht von der Sonne, dem Bräutigam, entlehnt. Rein wie die Sonne, bedeutet, dass sie ihr Licht nur von der Sonne selbst hat und dadurch wie die Sonne wird. Sie ist eins mit der Sonne, welche Christus ist. Der Bräutigam sieht seine eigene Schönheit, seine eigene überwältigende Macht bei ihr, und demgegenüber wird Er selbst nichts vor ihr. Deswegen sagt Er, dass sie überwältigend ist, wie eine Kriegsschar unter Panier. So ist sie nichts vor Ihm, und Er nichts vor ihr; so ist Er alles für sie, und sie alles für Ihn.6,10-11) In den Nussgarten ging ich hinab, um die jungen Triebe des Tales zu besehen, um zu sehen, ob der Weinstock ausgeschlagen wäre, ob die Granaten blühten. Unversehens setzt sich meine Seele auf den Prachtwagen meines willigen Volks. Die Braut bekommt Lust, sich selbst und ihren jetzigen Zustand anzuschauen. Sie geht hinab, um so zu tun, aber es ist nur für eine kurze Weile, denn sie kann jetzt nicht vom Bräutigam getrennt sein. Sie geht hinab und schaut auf das, was sie in seinem Land ist und hat, und sogar auf das, was sie unter den Menschen in der Welt ist und hat. Dies ist Untreue, denn der Blick ist von Ihm abgekehrt. Solche Untreue kann noch als innerer Schatten (Reste des alten Menschen) durch sie fahren, und sie kann auf diese Schatten schauen und lauschen auf das, was sie zu sagen haben, aber nur für eine Weile. Denn unversehens setzt sie ihre Liebe auf die Wagen ihres Fürstenvolks (Israels Wagen und seine Rosse! 2.Kön.2,12, das sind die Wagen des himmlischen Volks), und sie führen sie augenblicklich zurück. Wenn sie nicht selbst weiß, sich zu hüten, und es auch nicht kann, dann tut es die Liebe, und augenblicklich ist sie wieder bei Ihm, in seinem Land, verschwunden für die Menschen im alten Land.