DAS 4. KAPITEL.
Hier steht das, was im Äußeren geschieht, gleichsam still und wartet. Die Braut ist weiterhin furchtsam, sich selbst zu verlieren, wenn sie im Ernst in Ihn und in sein Land hineingezogen werden soll. Und dennoch gibt es in ihr etwas, das sich danach eifrig sehnt. Es ist als sollte sie sich in eine bodenlose Tiefe hinausstürzen. Sie will es, aber sie findet nicht den Mut dazu. Denke, wenn sie ertrinken und ewiglich verloren gehen sollte. Der Glaube wankt nämlich. Wenn es gilt, ist es nicht leicht zu glauben, dass Gott alle Macht hat und Er sie mit allmächtiger Hand bis zum Ziel leitet, eben wenn Er ihr all ihr Eigenes, all das, womit sie Ihn umfassen kann, raubt. Es dauert noch, bis nur ein Weg für sie übrig ist, sich nämlich blind in die Tiefe seiner Liebe hinauszustürzen und da zu ertrinken. Wenn sie dazu kommt, kann sie nicht anders als den Sprung tun. Da ertrinkt ihr Ich ganz in der Tiefe seiner Liebe, aber da wird sie auch schauen, dass sie eben dadurch zu einem neuen Ich kommt; ein Ich, welches sie in Ihm allein hat. Mit diesem neuen Ich und seinem Bewusstsein kann sie Ihn in solch einer Weise umfassen und besitzen, welche ebenso hoch über dem Alten ist wie der Himmel über der Erde.
4,1) Aber das innere Geschehen setzt sich während dem äußeren Warten fort und führt sie ständig dem Ziele näher, obgleich sie nicht viel davon empfindet. Der Bräutigam sagt zu ihr: Siehe,
du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön. Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen des Gebirges Gilead lagern. Sie weiß nichts davon, dass sie schön ist. Sie weiß nur, dass sie Ihm ängstlich widerstrebt. Und sie versteht nicht, dass dieser Widerstand auch ein Werkzeug in seiner Hand zu ihrer Entblößung ist, damit sie am Ende ganz die Seinige werde. Sie ängstigt sich vor dem Neuen, welches die Vermählung herbeiführt, welches ist das Verzehren des Eigenen. Ohne es zu wollen, sträubt sie sich Ihm gegenüber. Aber dann muss sie sich ja selbst als schlecht und schwarz und unbändig sehen, alles andere als anziehungswürdig. Sie erkennt sich als höchst unwürdig - nie kann sie das schaffen, ganz die Seinige zu werden. Aber der Bräutigam lockt und beruhigt sie. Er versichert ihr, dass sie schön ist - schön sogar in ihrer Ängstlichkeit und Widerspenstigkeit. Ihre Schönheit hat sie in seinem Herzen und in seinen Augen. Nur da hat sie sie, und nur da kann sie sie wie in einem Spiegel sehen. In sich selbst und für sich selbst ist sie widerwärtig, aber wenn sein Blick auf sie fällt, wird sie lieblich. Sein Blick hat die Macht, schön zu machen.Was Er jetzt beschreibt, sind innere Schönheiten, aber diese fließen in gewisser Weise in das Äußere hinaus. Ihre Augen sind Tauben. Tauben bezeichnen Einfalt. In ihrem Inneren ist sie leer an allem; nur die Sehnsucht ist da, dass Er da drinnen mit ihr umgehen möge. Aber Er geht noch immer nicht hinein, sondern steht draußen und spielt förmlich mit ihr. Ihr Inneres zeigt sich durch ihren Schleier. Auch den Schleier hat Er ihr gegeben. Er ist notwendig, um sie vor der Welt zu verbergen. Ihr wirkliches Wesen ist nur für Ihn da. Aber der Schleier ist auch da, um die Welt für sie zu verbergen, damit sie weitmöglichst an der Welt vorübergehen kann. Der Schleier ist also ein Schleier der Barmherzigkeit. Für Menschen kann wohl ein Schimmer von ihrem wirklichen Wesen sichtbar werden, sie sehen es aber nicht. Nur Er und die, welche himmlisches Gesicht bekommen haben, können es wahrnehmen. Aber auch für Ihn ist ihr Wesen noch wie eine scheue Taube hinter einem Gitter, welche nur flüchtig erscheint. Mit seinen Worten will Er sie aus ihrem Gefängnis zu sich und in die himmlische Freiheit seines Landes hinauslocken. - Das Haar bezeichnet die geistliche Keuschheit. Im Gegensatz zu dem vorhin erwähnten Schleier ist das Haar ein lebendiger Schleier, und ist außerdem im Besitz einer geheimnisvollen Macht. An einer andern Stelle heißt es: "Ein König ist gefesselt durch deine Locken." Die Keuschheit ist es, die diese Macht ausübt. Keuschheit heißt: Nur für Einen da zu sein, sich nur Einem geben, nur von Einem sich (seine Locken) berühren lassen. - Sie ist also einfältig in Richtung gegen Einen und Eines, obgleich von einer andern Art, als die der Taube im vorher Gesagten, nämlich eine innere Leere von allem, außer der Sehnsucht danach, dass Gott den leeren Raum füllen möge. Die Einfalt der Keuschheit ist eine äußere, oder richtiger eine, die von Innen ins Äußere hinausfließt und da zu einer Macht, einem Fallstrick wird, welche den Einzigen fängt. Ohne die Keuschheit würde die Braut nie den Bräutigam fangen können. Der Bräutigam erkennt ihre Macht und beugt sich vor ihr, wenn Er ihre Locken berührt. Er vergleicht sie mit
einer Herde von Ziegen, die an den Abhängen des Gebirges Gilead weiden, das eine keusche, hohe und stolze, aber geheimnisvolle Schönheit bezeichnet.4,2)
Er sagt: Deine Zähne sind wie eine Herde geschorener Schafe, die aus der Schwemme heraufkommen, welche allzumal Zwillinge gebären, und keines unter ihnen ist unfruchtbar. Die Zähne bezeichnen das Nachsinnen über das Wort, d.h. das Essen und Trinken des Fleisches und Blutes des Bräutigams in dem Worte. Das Gotteswort, die Bibel, ist Gottes lebendiges Wort, von Ihm selbst ausgegangen und zu Fleisch und Blut in seinem Sohn, dem Bräutigam, geworden. Das lebendige Wort ist also der Bräutigam selbst, und Er gibt sich in Ihm zum Essen und Trinken. Die Zähne der Braut, welche kauend dieses Wort überlegt, vergleicht Er mit neu geschorenen Schafen, die aus der Schwemme heraufkommen. Sie sind rein und weiß, eben durch ihren Gebrauch des Wortes. Sie sind fernerhin allesamt mit Zwillingen trächtig, keines unter ihnen ist unfruchtbar. Das bedeutet, dass die Zähne nicht nur dazu dienen, um sie selbst zu ernähren, sondern auch um andere zu speisen und zu nähren mit dem Wort.4,3) Er sagt weiter: Deine Lippen sind wie eine Karmesinschnur, und dein Mund ist zierlich. Wie ein Schnittstück einer Granate sind deine Wangen hinter deinem Schleier. Die Lippen und der Mund bezeichnen den Aus- und Eingang der Hingabe, die Pforte der Liebesäußerung. Das Rosenrote ist das Blut, welches hervorleuchtet durch die Lippen und darauf hindeutet, dass die Hingabe eine Hingabe bis zum Vergießen des Blutes, ja bis zum Tode ist. Wenn sie es noch nicht ist, so ist sie doch dabei, es zu werden. Deswegen ist ihr Mund schön, er hat Ihm gefallen. Die Wangen bezeichnen das, was lieblich und leicht empfängt, was am meisten der Umwelt mit ihrem Sonnenschein und Gewitter, ihren Menschen und Dingen ausgesetzt ist. Ihre Wangen sind gleich geborstenen Granatäpfeln, d.h. sie sind offen und empfindlich, alles zu empfangen und alles zu leiden. Sie muss etwas Geborstenes an sich haben, damit sie überwältigend schön für Ihn sein kann.
4,4)
Er fährt fort: Dein Hals ist wie der Turm Davids, mit Brustwehr gebaut; tausend Schilde hängen daran, alles Schilde der Helden. Hals bezeichnet die Stärke der Schwäche. Der Hals ist eines der schwächsten und empfindlichsten Teile des Körpers, und dennoch trägt er das Stolzeste und Schönste beim Menschen in einer stolzen und schönen, also starken Weise. Ihr Hals ist gleich Davids Turm und ist wohlbefestigt wie jener. Sie ist mit dem Schutz seiner Liebe gegen alles befestigt, was ihrem geistlichen Leben schaden könnte. Es ist dieser Schutz seiner Liebe, der sie aufrecht hält in aller Not und Gefahr, in allem Dunkel und Missmut. Tausend Helden wohnen bei ihr innerhalb dieses Schutzes, d.h. 1000 von seinen Heiligen stehen zu ihrem Dienst, deren tausend Schilde hängen außen auf ihrem Schutzturm, bei ihr dargestellt durch das Halsband mit Schmucksachen, die Schilden gleichen.4,5) Deine beiden Brüste sind wie ein Zwillingspaar junger
Gazellen, die unter den Lilien weiden. Er kann nicht satt davon werden, ihre Schönheit anzuschauen; sie überwältigt Ihn mehr und mehr. Die Schönheit, wovon Er redet, steht in Verbindung mit dem ganzen Geschlecht und der Schöpfung, macht also das Bindeglied mit dem Ganzen aus, und ist deswegen von herzergreifender Schönheit. Die Brüste sind hier das Sinnbild für das Vermögen, geistliche Kinder zu nähren und zu pflegen. Dieses Vermögen steckt bei der Braut jetzt noch im Anfangskeim, aber es wird blühen und viel Frucht tragen, wenn die Zeit gekommen ist. Ihre Brüste gleichen einem Paar Zicklein, Zwillinge einer Gazelle. Die Gazelle ist scheu und zuversichtlich zugleich. Sie ist schön in jeder Linie und jeder Bewegung. Und ein Paar Zicklein, das unter der reinen und unbefleckten Unschuld der Lilien weidet, ist ein ergreifender Anblick.Alle die Schönheiten, welche Er beschrieben hat, um sie zu locken und zu beruhigen, hat sie von Ihm bekommen. Nicht eine einzige Schönheit ihres natürlichen Menschen gehört hier dazu. All ihr Eigenes, Schönheit und Hässlichkeit, Gutes und Böses, kommt nicht in Betracht und soll weg, soll in seinem Feuer verzehrt werden. Aber schon bevor dies geschehen ist, hat sein Blick, ihr unbewusst, die inneren Schönheiten bei ihr geboren, welche Er hier aufgezählt hat. Sie gehören dem Himmlischen an, und Er hat von ihren geredet, um sie damit ganz in das Himmlische, in sein Land, hineinzulocken.
4,6) Nun hat Er seine Rede (oder richtiger, seinen Lobgesang) über ihre himmlische Schönheit beendet. Nun will Er dies in ihr sinken lassen, damit es in der Stille sein Werk ausführen möge. Er hat augenblicklich nichts anderes zu tun als zu warten, und deshalb sagt
Er: Bis der Tag sich kühlt und die Schatten fliehen, will ich zum Myrrhenberge hingehen und zum Weihrauchhügel. Bis es für sie tagt, will Er sie allein lassen. Es ist dunkel in ihr, und einander widerstrebende Gedanken kämpfen da ihren Kampf und ängstigen sie. Die Schatten der Finsternis und Spukgebilde kämpfen mit all dem Lieblichen, was Er ihr gesagt hat, und mit allem, was Er für sie ist. Und Er, Er geht hin zum Myrrhenberge, dem bitterlieblich duftenden, wo seine Liebe, bitter und lieblich zugleich, sein Blut für sie vergossen hat, deren Duft sich durch alle Zeiten, durch die ganze Schöpfung und durch die Himmel, verbreitet. Da will Er auf sie warten. Dort, soll sie wissen, ist Er zu finden, wenn die Schatten wieder von ihr geflohen sind.4,7) Aber bevor Er geht, fasst Er seinen Lobgesang in einem Wort zusammen: Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir. Er redet von seinem tür sie vollbrachten Werk. Dieses Werk hat sie durch und durch schön und ohne Makel gemacht. Aber Er hat sie nicht mit seinem Blut freigekauft, damit sie zurückbleiben und in ihrem irdischen Gefängnis verharren soll, sondern damit sie in seinem himmlischen Land leben und wohnen soll. Seine für sie erworbene Schönheit und Makellosigkeit verschwinden vor ihr, wenn sie mit ihnen, im Irdischen haften bleibt. Du bist schön durch und durch; das bedeutet hier, alles ist, wie es eben jetzt sein soll. Du befindest dich in dem Schmelzofen der Angst, du willst und du willst nicht. Aber sei guten Mutes, es gibt beinahe keinen Weg zurück, die völlige eheliche Vereinigung steht vor der Tür, und dann wirst du in Seligkeit zu nichts für dich selbst werden in meinen Armen, gleichwie ich in den Deinigen! Dann findest du dich selbst in mir, gleichwie ich mich selbst in dir finde, und dies ist unsere gemeinsame Seligkeit.
4,8) Hier ist wiederum eine Pause in der Zeit. Während dieser hat es wohl in gewisser Weise für sie getagt; aber das Tagen ist nicht ein Tagen für das Himmlische bei ihr, sondern für das Irdische gewesen. Sie ist ganz einfach zu den Bergen geflohen, um das irdische Leben in einer irdisch ungebundenen Weise zu leben. Die Verzweiflung über sich selbst hat sie ergriffen, ob sie überhaupt ganz seine Braut zu werden vermag. Und nun versucht sie, Ersatz in einer freigemachten Welt- und Naturbejahung zu finden. Sie lebt unter Löwen und Panthern, frei wie sie ist, auf ihrem Berg. Sie hat sich da verschanzt gegen alles, was ihr ihr Selbst und ihre Freiheit rauben will, also auch gegen Ihn. Dennoch weiß ihr Herz, dass all dies eitel ist. Sie kann nicht von Ihm wegkommen, nicht aus seinem Griff schlüpfen, wie sie sich auch wendet, um loszukommen. All ihre Sehnsucht, all ihre Liebe steht zu Ihm, wie sie auch trotzen mag. All das, was sie jetzt in Gang gesetzt hat, ist bloß Manöver, um sich selbst zu verteidigen, ihre irdische Schönheit, ihre irdische Tugend und Gerechtigkeit, obgleich sie im Innersten weiß, dass all ihr Eigenes nur ein Schutthaufen ist. Ihr ganzer jetziger Zustand ist jedoch nichts anderes als eine Entblößung, obwohl sie selbst geneigt ist, es mit andern Augen zu sehen. Sie betrachtet es als Sünde, und es ist Sünde, denn Sünde ist nichts anderes als Entfernung von Gott. Aber sie kann nicht fertig werden mit der Sünde, es ist als ob sie an ihr festhinge in allem, was sie denkt und tut. Sie glaubt, dass sie für immer den Bräutigam verlassen hat, und dass Er nichts mehr von solch einer wie sie wissen will. Gewiss steigt das Vermissen, die Sehnsucht und die Liebe in ihr auf, aber sie erstarren förmlich bei dem Gedanken, dass sie wie eine für Ihn Verlorene ist. - Aber Er hat sie gewiss nicht aufgegeben, nicht verlassen, obgleich Er sich auf Abstand hält. Sie ist genau so in seiner Hand, jetzt wie vorher, ja noch mehr, denn Er steht hinter ihrer Entblößung, und sie ist weiter auf dem Weg der Entblößung fortgeschritten als jemals. Er verwendet alles in ihrem leben und alles um sie als Werkzeug (als Antreiber) für diese Entblößung zu benützen. Und es geht eilig abwärts mit ihr. Er ist auf Abstand ihrem Zustand gefolgt und hat die rechte Stunde abgewartet, um sie aufzusuchen. Nun kommt Er, und seine Worte zu ihr sind bewegend, ja bettelnd: Komm mit mir vom
Libanon, meine Braut, komm mit mir vom Libanon. Steige herab vom Gipfel des Amana, vom Gipfel des Senir und Hermon, von den Bergen der Panther. Bemerke, dass Er sie das erste Mal mit dem Brautnamen anredet!. Und das eben jetzt, da sie sich am weitesten entfernt von Ihm zu sein dünkt. Ein Strom von Freude geht durch ihr Herz, verschwindet aber sofort, denn sie wagt nicht zu glauben, dass sie immer noch die Auserwählte ist. Komm mit mir, sagt Er, steige von deinen Verschanzungen herunter! Du bist vor mir geflohen und hast dich meinetwegen verschanzt, und dabei die höchsten Gipfel von Unzulänglichkeit zu Hilfe genommen. Du willst Schönheit, Tugend und Gerechtigkeit in dir selbst haben, und mit Löwe und Panther verteidigst du sie. - Sie erkennt, dass dies wahr ist. Je näher die Entscheidung für sie rückt, um so ängstlicher ist sie wegen ihrer Unwürdigkeit geworden, und gerade deshalb hat sie Schönheit, Tugend und Gerechtigkeit in sich selbst haben wollen - um Ihm gleich zu sein, um etwas vorweisen zu können, was in seinem Lande gilt; Ihm etwas zu geben, an statt jetzt nur ihre Geringheit und Elendigkeit zu bringen. Er jedoch sucht sie nur davon wegzulocken, auf sich selbst zu sehen. Er zieht und zieht sie dahin, auf Ihn zu schauen und da ihre Schönheit, Tugend und Gerechtigkeit zu finden. Sie fängt an, all dies zu sehen und zu erkennen. Sie sieht in einer Weise wie nie zuvor, dass sie arm und bloß ist, arm und bloß sogar an Blöße und Armut; denn sie hat alles Ihm gegeben. So steht es mit ihr. Aber auch Er ist arm und bloß (obgleich sie dies nicht sieht), denn Er hat ihr alles gegeben, seine ganze himmlische Schönheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Herrlichkeit, so dass Er vor ihr steht als der am meisten entblößt ist, so wie Er in Jesaja 53 und Philipper 2,6-8 beschrieben wird. Nun muss sie alle Herrlichkeit in Ihm allein sehen, und Er muss all die seinige in ihr sehen. In dieser Gegenseitigkeit wird die wirkliche, eheliche Vereinigung geboren.4,9) Deswegen sagt Er jetzt, da sie Ihm einen Augenblick zuhört, und (wenn auch mit Sträuben) sich von Ihm ziehen lässt:
Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester, Braut, du hast mir das Herz geraubt, mit einem deiner Blicke, mit einer Kette von deinem Halsschmuck. Alles was ich bin und habe, ist dein. Mit einem einzigen Blick der Hilflosigkeit und mit einem einzigen Glied von der Kette deiner Gefangenschaft, welche die Welt um deinen Hals gelegt hat, und wovon deine Seele so schwer gepeinigt wird, hast du mein Herz und alles, was ich bin und besitze, genommen. Es ist alles dein, meine Schwester, meine Braut. Es ist dein, damit ich es in dir besitze und meinen Reichtum in dir habe. Und alle deine Armut und Geringheit. Alle deine Elendigkeit hast du mir gegeben. Es ist mein, damit du es in mir besitzen und es da in himmlische Reichtümer verwandeln lassen mögest. Du bist meine Schwester durch diesen gegenseitigen Austausch von Besitztümern, wodurch ein Ausgleich zwischen uns stattfindet und wir gleich werden. Meine Schwester - Braut will ich dich nennen.4,10} Sie sieht im Augenblick nicht auf sich selbst, sie sieht auf Ihn und lauscht Ihm:
Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, Braut! Wie viel besser ist deine Liebe als Wein, und der Duft deiner Salben als alle Gewürze. Er sagt ihr dies, obwohl ihre Liebe noch nicht so ist, wie sie sein sollte, und sie noch widersteht. Aber Er sieht, dass das Hindernde bald weichen wird, und die volle Liebe schon hinter der Entblößung bei ihr vorhanden ist, wenn auch noch ganz zart. Die Lieblichkeit und der Duft dieser zarten Liebe können vor Ihm nicht verborgen werden. Diese Lieblichkeit und der Duft verbreiten sich auch an die Menschen um sie, obgleich sie nicht sehen können, dass sie von ihr kommen. Denn da sie sich in der Entblößung befindet, sieht sie für die Menschen entweder bedeutungslos oder abscheulich aus. Denn sie können sie nicht als eine Braut erkennen und sehen. Aber sie haben, deswegen gleichviel Nutzen von der Lieblichkeit und dem Duft, und fühlen sich dadurch auf den Brautweg gezogen.4,11) Er sagt: Honig und Milch ist unter deiner Zunge, und der Duft deiner Gewänder ist wie der Duft des Libanons. Mitten in dem Zustand der Entblößung, worin sie sich befindet, triefen ihre Lippen von Süssigkeit, d.h. von Gottes lebendigem Wort. Denn solange sie nur auf Ihn schaut und nur Ihm lauscht, fließen seine Worte von ihren Lippen. Dies geschieht nicht aus ihrem Vermögen, sondern nur, weil sie seine Worte bei sich Eingang gewinnen lässt. Dadurch verbirgt ihre Zunge den Honig und die Milch des Worts, welches zu lieblicher Nahrung für andere Seelen werden könnte. Es sind die Lippen der Braut, aber das Wort des Bräutigams. Dass ihre Zunge den Honig und die Milch des Worts verbirgt, bezeichnet, dass sie dieses im Schweigen verbirgt, und dadurch das Schweigen des Worts und das Wort des Schweigens kennen lernt. Sie sieht dann, dass das Wort Schweigen gebiert, und dass das Schweigen Worte gebiert. Sie erfährt sogar dies; denn in ihrem Entblößungszustand würde sie nicht selbst wagen, Gottes Wort zu reden. Sie fühlt sich dazu unwürdig und meint, dass sie nur schaden würde, wenn sie es täte. Sie schweigt also, aber ohne dass sie es weiß, fließt der Honig und die Milch des Worts dennoch über ihre Lippen in allem, sowohl in ihrem Schweigen als in ihrem Reden, sogar wenn sie von alltäglichen Dingen redet. - Gewänder bezeichnen seine Gerechtigkeit, Gnade und Wahrheit, womit sie gekleidet ist. Diese verbreiten einen wunderbaren Duft, einen Duft von einer andern Welt, nämlich den Duft seines Landes. Der Duft hat sie nie verlassen, seitdem sie zuerst von Ihm ergriffen wurde, und er wird sie auch nicht verlassen.
4,12) Hier greift der Bräutigam dem Zustand der vollen Vereinigung mit ihr vor. So unklar und durcheinander, wie alles jetzt bei ihr ist, kann diese Vereinigung mit ihr nicht verwirklicht werden. Aber Er sieht sie so, wie sie bald werden wird, und davon will Er ihr Kenntnis geben, bevor sie durch die dunklen Nächte geht, die vor ihr liegen. Nicht dass sie sie jetzt klar erfassen könnte, sondern sie soll ihr zu einer verborgenen Wegzehrung auf dem übrigen Teil des Weges werden. Sie soll nämlich dort in einer verborgenen Weise von der Erkenntnis, die Er jetzt in sie eingießt, aufrechterhalten und genährt werden. Während der dunklen Nacht, welche sie noch vor sich hat, kann sie weder etwas verstehen noch vernehmen, aber sein Wort findet sich dennoch in ihr und hält ihr himmlisches Wesen aufrecht in einer geheimnisvollen Weise, und nährt es. - Nun sagt Er ihr, wie sie ist, wenn sie zur vollen Einheit mit Ihm kommt: Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut, ein verschlossener Born, eine versiegelte Quelle. Sie ist also verschlossen für alle andern, denn sie gehört Ihm allein. (Dies bedeutet auch, dass sie Ihm in andern gehört). Noch ist sie teils verschlossen, auch für Ihn, weil noch etwas bei ihr sich für Ihn nicht geöffnet hat. Aber Er, der die Dinge, die nicht sind, so sieht, als ob sie da wären, sieht sie so, wie wenn alles fertig wäre. Wenn Er jetzt zu ihr redet, versteht sie ein wenig davon. Deswegen ruft sie in Vers 16 den Nordwind (den scharfen) und den Südwind (den lieblichen), um ihr zu helfen, ihren Lustgarten für Ihn allein zu öffnen. Dies schaut sie mitten durch die Finsternis, die sich über ihre Seele gelagert hat. Aber obgleich sie es sieht, kann sie nichts tun, um sich ganz für Ihn zu öffnen. Die Finsternis, welche noch über ihr liegt, beruht zum größten Teil darauf, dass sie nicht mehr als einen Moment wegschauen kann von sich selbst, um auf Ihn allein zu schauen und sich Ihm ganz hinzugeben. Aber im Augenblick ist dieses nur wie es sein soll, und sie muss eben durch dieses gehen, um zum Ziel zu kommen. Ihre Augen sind in dieser Weise für Ihn verschlossen, und sie sieht nicht, was sie in Ihm hat. Und ebenso sind ihre Ohren verschlossen. Sie kann seine Liebesworte nicht recht auffassen. Ihr Gefühl ist verschlossen; sie kann nicht recht sein Ziehen vernehmen. Es ist Nacht um ihre Seele. Deswegen betet sie, dass der Nord- und Südwind des Morgens kommen möge mit dem neuen Tag. - So sieht sie aus in ihren eigenen Augen, aber für Ihn ist sie ein verschlossener Garten, ein verschlossener Born und eine versiegelte Quelle in dem rechten Sinn; d.h. verschlossen und versiegelt für alle andern und für alles andere, nur Ihm allein gehörend. Sie ist für Ihn ein lieblicher, unschätzbarer Lustgarten, eine reine und klare Quelle, wo nichts von der Unreinigkeit der Welt hineinkommen kann, ein tiefer Brunnen mit frischem Wasser, der in seiner Tiefe den Himmel widerspiegelt. Sie gehört Ihm und nur Ihm. Dieser keusche Lustgarten, dieser Brunnen und diese Quelle sind schon jetzt seine Freude.
4,13-14) Er redet zu ihr von ihrer kommenden Fruchtbarkeit, und seine Worte versenken sich in sie, obgleich sie jetzt nicht imstande ist, mehr als einen Bruchteil von ihnen zu verstehen. Wenn Er sie bis zum Ziel geführt hat, wird das Wort in Jes.60,22 auf sie angewendet werden können: "Der Kleinste soll zu einem Tausend, und der Geringste zu einem gewaltigen Volk werden. Ich Jahwe, werde es zu seiner Zeit eilends ausrichten." Sie ist die Kleinste und Geringste, und auf dem Wege zu einer noch größeren Kleinheit und Geringheit. Aber eben daraus soll eine überwältigende Frucht entstehen. Von ihr sollen Tausend, ja soll ein zahlreiches Volk kommen. Er sagt: Was dir
entsprießt, ist ein Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten, Zyperblumen nebst Narden, Narde, Safran, Kalmus und Zimt, mit allerlei Bäumen des Weihrauchs. Myrrhe und Aloe, mit allen besten Würzen. Alle die hier aufgeführten Bäume und Gewächse mit den edelsten Früchten und ausgesuchtesten Düften und Gewürzen bezeichnen Früchte für den Himmel. Mitten in der Not und dem Leiden und der Elendigkeit der Welt soll sie himmlische Früchte tragen. Sie soll Kinder, Herrlichkeitskinder für den Himmel tragen und gebären und erziehen. Etwas Schöneres und Begehrenswerteres kann sie sich wohl nicht denken. Wenn die Zeit da ist, sollen alle ihre Träume übertroffen werden, und schon jetzt liegt all dies in ihr verborgen, während Finsternis sie bedeckt, und das Licht um sie zur Nacht wird (Ps.139,11-12). Aber mitten in der Finsternis und Nacht kommen Schimmer vom Glauben an sein Wort zu ihr. Und was sie sonst auch sieht oder nicht sieht, erkennt oder nicht erkennt; Er gießt sein Wort in sie hinein, das Wort, das ihr zu einer verborgenen Wegzehrung durch die Nacht werden soll.4,15) Dann schließt Er seine Rede mit einem neuen Bild, welches die Sache von einer andern Seite beleuchtet:
Ein Gartenbaum bist du, ein Born lebendiger Wasser, die vom Libanon fließen. Hier wird sie nicht mit dem Lustgarten oder dem Park verglichen, worin Bäume und Gewächse aufwachsen, die Frucht geben. Das Bild ist unzureichend. Hier ist sie die Quelle und der Brunnen in dem Lustgarten und dem Park, die Quelle, welche Leben und Kraft zum Wachstum gibt für alles, was da Frucht trägt. Das bedeutet, dass von ihr nicht nur Bäume und Gewächse, welche Frucht geben, kommen sollen; sondern sogar der Lustgarten und Park selbst, woraus diese wachsen. Sie soll also Mutter werden für ebenso hervorragende Mütter wie sie, welche in ihrer Ordnung ebensoviel Frucht wie sie bringen sollen.4,16) Die Braut hat seinen Worten gelauscht, obgleich sie sie nicht richtig hat verstehen können. Ihr jetziger Zustand ist ein Hin- und Hergerissensein in der Finsternis. Sie findet sich nicht zurecht. Sie wird ihre Hilflosigkeit gewahr und fleht die Winde an, ihr zu helfen, ihren Lustgarten für Ihn zu öffnen, so dass sein Wohlgeruch ausströmen und Ihn zu ihm ziehen möge. Ebenso dass sie allen Nebel hinwegwehen möchten, so dass es für ihr Gesicht tagt. Aber sie war es ja, die zu Ihm kommen sollte, nicht Er zu ihr. Dies versteht sie kaum in diesem Augenblick, die Gedanken laufen hin und herbei ihr.