3.Teil Zugaben
Was ist die Menschenseele ?
Eine Denkwürdigkeit
Einst erblickte ich nicht ferne von mir eine Lufterscheinung; ich sah eine Wolke zerteilt in Wölkchen, deren ein Teil himmelblau, ein Teil dunkel und farblos war; und ich sah diese untereinander gleichsam in kämpfenden Widerstoß treten; in Streifen durchblinkten dieselbe Strahlen, welche bald spitz wie Dolche, bald stumpf wie abgebrochene Schwerter erschienen; jene Streifen drangen bald heraus mir entgegen, bald zogen sie sich zurück, völlig wie Fechter; so schienen jene verschiedenfarbige Wölkchen gleichsam einen Kampf gegeneinander zu bestehen, allein es war nur ein Spiel. Und weil diese Lufterscheinung nicht ferne von mir sich zeigte, so erhob ich die Augen, und strängte die Sehe an, und ich erblickte Knaben, Jünglinge und Greise, die in ein Haus eintraten, das aus Marmor war mit Unterbau aus Porphyr; über diesem Hause stand jene Lufterscheinung; und nun redete ich einen der Hineingehenden an, und fragte: "was geht hier vor", und er antwortete: "es ist dies ein Gymnasium, wo man Jünglinge einweiht in mancherlei Gegenstände der Weisheit!"; bei diesen Worten trat ich mit ihnen ein, ich war im Geiste, d.h. in gleichem Zustande, worin die Menschen der geistigen Welt sind, welche Geister und Engel heißen; und siehe, in dem Gymnasium zeigte sich gegen vorwärts ein Katheder, in der Mitte der Bänke, an den Wänden ringsherum Sitze, und über dem Eingang ein Hochsitz. Der Katheder war für Jünglinge, die bei dem eben zur Erörterung ausgesetzten Fragepunkt antworteten; und der Hochsitz für Ältere, welche Schiedsmänner und Richter sein sollten. In der Mitte des Hochsitzes fand sich eine Erhöhung, wo ein weißer Mann saß, den sie "Oberlehrer" nannten, und welcher die Fragen aufwarf, worüber die Jünglinge vom Katheder herab antworteten. Und nachdem man versammelt war, richtete sich der Mann von der Erhöhung auf und sprach: "Laßt uns nun, wenn´s gefällt, etwas über die Frage hören, und löset sie, wenn ihr´s vermöget:
Was ist die Seele und welches ist ihre Beschaffenheit?
Bei dieser Aufgabe kam Befremdung über alle, und es entstand ein Gemurmel, und Einige von der Versammlung auf den Bänken riefen: "Welcher Mensch von Saturns Zeiten bis herab zu den unsrigen mochte wohl irgend mit Vernunft denken, sehen und erfassen, was die Seele ist, und weniger noch, welches ihre Beschaffenheit; übersteigt die nicht die Sphäre des Verstandes von uns allen? Da ward vom Hochsitz her entgegnet: "Es liegt nicht über dem Verstand, sondern in ihm und vor ihm; antwortet immerhin!" Und es erhoben sich die Jünglinge, die an diesem Tage gewählt waren, den Katheder zu besteigen und über den Gegenstand der Erörterung zu antworten. Es waren ihrer fünf, von den Älteren geprüft und von ausgezeichnetem Scharfsinn erfunden, und nun eben an beiden Seiten des Katheders auf ausgeschlagenen Bänken sitzend; diese stiegen sofort in der Ordnung, wie sie gesessen hatten, hinan, und jeder legte beim Hinaufgehen ein Leingewand an von opalfarbiger Seide, und über solches ein Faltenkleid aus weicher Wolle mit eingewirkten Blumen, und weiters einen Hut, um dessen Scheitel ein Rosenkranz lief mit kleinen Saphiren durchwunden.
Und ich sah den Ersten, so angetan, hinansteigen; er sprach: "Was die Seele und wie sie beschaffen ist, hat sich vom Tage der Schöpfung Keinem aufgeschlossen; es ist ein Geheimnis in den Schätzen Gottes allein; das freilich ist uns kund, daß die Seele im Menschen gleich einer Königin thront; wo aber ihr Hof ist, darauf haben wissenschaftliche Seher nur geraten. Einige, sie horste in einem Knöllchen zwischen dem großen und kleinen Gehirn, das man Zirbeldrüse nennt; in diese verlegten sie den Sitz der Seele, aus dem Grunde, weil der ganze Mensch von jenen beiden Gehirnen her regiert wird, und jenes Knöllchen diesen den Anstoß gibt; was denn, sagen sie, den Gehirnen den Anstoß gibt, das gibt auch dem ganzen Menschen von dem Scheitel bis zur Fußsohle den Anstoß"; "und", schloß der Jüngling, "dies erschien denn Vielen auf der Welt als wahr oder wahrscheinlich, allein nach einem Jahrhundert ward es als hohle Dichtung verworfen."
Nachdem er so gesprochen, legte er Faltenkleid, Leibgewand und Hut ab, und der Zweite aus den Gewählten legte diese Stücke an und bestieg den Katheder; sein Ausspruch über die Seele war: "in dem gesamten Himmel und auf der gesamten Welt wisse man nicht, was die Seele und wie sie beschaffen sei; das nur wisse man, was sie sei und daß sie in dem Menschen sei; doch wo eigentlich, werde geraten"; "soviel", fuhr er fort; "ist gewiß, daß sie im Haupt ist, weil da der Mensch denkt, und da der Wille beabsichtigt, und vorwärts in des Hauptes Antlitz die fünf Sensorien des Menschen sind; diesen und jenen gibt nichts anderes das Leben als die Seele, welche inwendig im Haupte siedelt; wo aber ihre Hofstatt ist, getraute ich mir nicht zu bestimmen, schloß mich aber bald Denen an, die ihr den Sitz in den drei Behältern des großen Gehirns anwiesen, bald Denen, die sie in den streifigen Körpern des großen Gehirns, bald Denen, die sie in der weißen Substanz beider Gehirne, bald Denen, die sie in der grauen Substanz suchten; denn es ergaben sich aus Begründungen Wahrscheinlichkeiten, die überzeugend schienen, für einen jeden dieser Sitze. Die Wahrscheinlichkeit für die drei Behälter des großen Gehirns war, daß diese sind die Aufnahmegefäße der Animalgeister und aller Lymphen des großen Gehirns: die Wahrscheinlichkeit für die streifigen Körper war, weil diese das Mark bilden, durch welches die Nerven auslaufen, und durch welches beide Gehirne sich fortsetzen ins Rückenmark; und aus diesem und jenem gehen die Fibern hervor, mittels welcher sich der ganze Körper zusammenwebt; die Wahrscheinlichkeit für die weiße Substanz beider Gehirne war, daß diese den Verknüpfungsort und Zusammenlauf aller Fibern bildet, welche die Beginnformen des ganzen Menschen sind, die Wahrscheinlichkeit für die graue Substanz war, daß in ihr die ersten und letzten Enden, und folglich die Ausgangspunkte aller Fibern , und so aller Sinne und Bewegungen sind; die Wahrscheinlichkeit für die harte Hirnhaut war, daß diese die gemeinsame Bedeckung von beiden Gehirnen ist, und folglich in einer Art von Fortsetzung sich über das Herz und über die inneren Teile des Körpers hindehnt. Was mich betrifft, so stimme ich nicht mehr für das eine als für das andere, möget ihr selbst, wenn es gefällt, entscheiden und den Ausschlag für die größere Wahrscheinlichkeit geben."
Mit diesen Worten stieg er vom Katheder herab, und reichte dem Dritten Leibgewand, Faltenkleid und Hut, welcher denn, den Katheder besteigend, also sprach: "Was soll ich Jüngling mit einer so erhabenen Frage? Ich frage die Gelehrten, welche hier an den Seiten hin sitzen, ja ich frage die Engel des obersten Himmels, ob je einer seinem Vernunftlicht heraus irgend eine Vorstellung von der Seele gewinnen kann; auf ihren Sitz im Menschen aber kann ich wie Andere nur raten; und ich rate denn, daß sie im Herzen wohnt und von da aus im Blute, und mein Raten geht hierauf, weil das Herz mit seinem Blute den Leib sowohl als das Haupt regiert; es entsendet nämlich ein großes Gefäß, Aorta genannt, in den gesamten Leib, und es entsendet Gefäße, Carotiden genannt, in das gesamte Haupt; daher die durchgängige Annahme, daß die Seele aus dem Herzen mittels des Blutes unterstütze, ernähre, belebe das gesamte Organensystem des Leibes und des Hauptes: als Beleg dieser Annahme tritt noch hinzu, daß wir in der heiligen Schrift so häufig die Ausdrücke finden "die Seele und das Herz", z.B. du sollst Gott lieben aus ganzer Seele und aus ganzem Herzen, und: Gott schaffe in dem Menschen eine neue Seele und ein neues Herz, 5. Mos. 6,5.10,11.11,14.26,16 Jerm 32,41.Matth 22,37. Mark.12,30.33. Luk.10,27, und an anderen Stellen mehr; mit anderen Worten aber, daß das Blut sei die Seele des Fleisches, 3. Mos.17,11.14." Bei diesem Schluß erhoben einige die Stimme und sprachen "gelehrt! - gelehrt!" Es waren ehemalige Canonici.
Sofort redete der Vierte, nachdem er von dem Letzten das Gewand angelegt und den Katheder bestiegen hatte. Auch mein Glaube ist, daß niemand so unsinnig und scharfsinnig ist, um ergründen zu können, was die Seele und wie sie beschaffen ist; weshalb mein Ausspruch ist, bei dem, der sie ausspüren will, verzehre sich der Scharfsinn in müßigem Beginnen; doch blieb ich von meinem Knabenalter an der Ansicht getreu, welche die Alten zu der ihrigen machten, daß die Seele des Menschen in dessen Ganzem sei und in jeglichem Teil von diesem, und so denn ebensowohl im Haupt und dessen Einzelheiten, als im Leib und dessen Einzelheiten; und daß es denn ein unfruchtbarer Gedanke der Neuerer war, ihr einen Wohnsitz anzuweisen irgendwo, und nicht überall; auch ist die Seele eine geistige Substanz, von welcher nicht räumliche Ausdehnung noch Örtlichkeit sich aussagen läßt, sondern Einwohnen und Erfüllen: und wirklich, wer verstände bei Nennung der Seele nicht das Leben, und ist nicht das Leben in der Gesamtheit und in jedem Einzelteile?" Dieser Rede gab ein großer Teil der Zuhörereschaft ihren Beifall.
Nach diesem erhob sich der Fünfte und ließ, mit demselben Gewand angetan, folgendes von Katheder herab vernehmen: "Gehen wir hinweg über die Erörterung, wo die Seele ist, ob in irgendeinem Teil oder anderwärts im Ganzen des Leibes: ich will nur, aus freien Mitteln, darüber meine Gedanken aussprechen, was die Seele und wie sie beschaffen ist ; Keiner denkt die Seele sich anders, als wie ein Lauteres, das sich vergleichen läßt mit Äther oder Luft oder Hauch, in welchem Lebensfähigkeit wohnt infolge der Vernunftmäßigkeit, welche dem Menschen in Vorzug vor den Tieren zukommt: Diese Ansicht habe ich darauf begründet, daß wir von dem Menschen, der eben stirbt, sagen, er hauche aus, oder stoße aus die Seele oder den Geist; weshalb auch von der nach dem Tode fortlebenden Seele geglaubt wird, sie sei ein solcher Hauch, in welchem Denkvermögen wohne, das wir Seele heißen; was anders kann die Seele sein ? Doch, weil ich vom Hochsitz herab Einige sagen hörte, die Aufgabe, auszumitteln was die Seele sei und welches ihre Beschaffenheit, liege nicht über dem Verstand, sondern in ihm und vor ihm, so ist mein Wunsch und Ansuchen, ihr selbst möchtest uns dieses ewige Geheimnis aufschließen."
Die Älteren auf dem Hochsitz blickten auf den Oberlehrer, der diese Aufgabe in Vorwurf gebracht hatte; er verstand die Blicke und den darin liegenden Wunsch, daß er herabstiege und lehrte. Und alsdann stieg er von seiner Erhöhung nieder, durchlief die Zuhörerschaft, bestieg den Katheder, und, indem er die Hand ausreckte, begann er: " Ich bitte um Gehör; wer nähme nicht an, daß die Seele die innerste und feinste Essenz des Menschen ist, und was ist Essenz ohne Gestaltung anders, als ein leeres Vernunftding? Darum ist die Seele Form; welcherlei Form aber, laßt uns hören; sie ist Form von der Liebe Allem und von der Weisheit Allem; der Liebe Alles heißt Triebe, und der Weisheit Alles heißt Innewerdungen; letzere aus jenen und so mit ihnen bilden eine Form, in welcher Unzähliges in solcher Ordnung Reihenfolge und Verknüpfung ist, daß man es Eines nennen kann; und Eines kann man es nennen, weil man nichts davon hinwegnehmen, noch etwas beifügen mag, damit es also sei; was ist die menschliche Seele anders als eine solche Gestaltung? Ist nicht der Liebe Alles und der Weisheit Alles das, was in jener Gestaltung als Wesenhaftes liegt? Und beides bei den Menschen ist in der Seele, und aus der Seele heraus in Kopf und Leib: Ihr heißet Geister und Engel, Geister und Engel seien wie Hauch- und Äthergebilde, und in dieser Art Gemüter; und nunmehr sehet ihr klar, daß ihr in Wahrheit, Wesen und Wirklichkeit die Menschen seid, die auf der Welt lebten und dachten in stoffigem Leib, und wußten, daß nicht der stoffartige Körper lebt und denkt, sondern eine geistige Substanz in diesem Körper; und diese nanntet ihr Seele, ohne ihre Gestalt zu kennen, und doch sehet ihr nunmehr dieselbe; ihr alle seid die Seelen, über deren Unsterblichkeit ihr so viel gehört, gedacht, gesprochen und geschrieben habt; und weil ihr seid Liebeformen und Weisheitsformen von Gott, so könnet ihr nicht sterben in Ewigkeit: die Seele ist folglich die Menschengestalt, von welcher nichts kann hinweggenommen, und zu welcher nichts kann hinzugetan werden, und sie ist inwendigste Form aller Formen des gesamten Körpers; und weil Gestaltungen, welche außerhalb sind, von der innersten Wesen sowohl als Form empfangen, darum seid ihr , so wie ihr erscheinet in euren und in unseren Augen, Seelen; es bündiger zu sagen: die Seele ist der Mensch selbst, weil sie ist innerster Mensch, weshalb ihre Gestalt die Menschengestalt ist in Vollbestand und Vollkommenheit; jedoch ist sie nicht Leben, sondern ist das nächste Aufnahmegefäß von Leben aus Gott, und so Wohnstätte Gottes." Diesen Vortrag beklatschten Viele; doch Einige sagten "wir wollen´s überlegen".
Ich meines Teils ging jetzt nach Haus; und siehe, über jenem Gymnasium zeigte sich an der Stelle der Lufterscheinung eine glänzendweiße Wolke ohne untereinander kämpfende Streifen und Lichtstrahlen; und diese Wolke trat, die Dachbedeckung durchdringend, hinein, und beleuchtete die Wände; und ich vernahm, daß man Schriftstellen erblickt habe, und unter anderem auch diese: Jehovah Gott hauchte in des Menschen Nüstern die Seele der Leben, und es ward der Mensch zur lebendigen Seele. 1. Mos.2,7.